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vom 20. Januar 2000


N E W Y O R K 

Gar nicht redlich - Hedwig

Von Henrike Thomsen 

Ossi oder Ami? Mann oder Frau? Die geheimnisvolle Hedwig war zwei Jahre eine Kultfigur in New York. Auch in Köln ist sie zu bewundern und demnächst wird es einen Film mit Hedwig geben. 

Die erste ostdeutsche Kultfigur in New York muß abtreten. Seit die Ticketverkäufe für das Rock-Musical "Hedwig and the Angry Inch" sinken, hilft auch eine Grammy-Nominierung für den Soundtrack nicht mehr. Ende Januar soll Hedwig, die Promenadenmischung aus Marlene Dietrich und David Bowie, von der Bühne des Jane Street Theater verschwinden. 

Ihre Urheber, John Cameron Mitchell und Stephen Trask, hatten eigentlich ein Musical über einen Rockstar und eine verlassene deutsche Soldatenfrau im Sinn. Doch letztere entwickelte den stärkeren Charakter. Die Berliner Kindheitserinnerungen von Autor Mitchell, dessen Vater der Produzentin Susann Brinkley zufolge an der Mauer stationiert war, mögen eine Rolle gespielt haben. Dazu kam, dass Komponist Trask früher New Yorker Drag Queens bei ihren Auftritten musikalisch begleitete. 


So entstand Hedwig - blond, langbeinig und unbeschreiblich androgyn, denn sie wird von einem Mann gespielt. Mit hintergründigem Humor wird erklärt, wie sie sich aus Liebe zu einem US-Soldaten zu einer Geschlechtsoperation entschloss. Böse Ironie: Die Operation geht schief. Eine unkenntliche Narbe bleibt zurück- weder Penis noch Vagina, sondern ein "angry inch". Die Pointe liefert nebenbei ein wunderbares Bild für das Dilemma der Ostdeutschen nach der Wende. Irgend jemand hat gesagt, die Ossis seien unter dem Anpassungsdruck eher zu Trans-Wessis geworden. Transvestit Hedwig steht dafür, und als unfreiwilliges Neutrum hebt sie die tragikomischen Auswüchse des Identitätskonflikts noch hervor. 

Sonst nimmt es das Musical historisch natürlich nicht so genau. Hedwig ist Soldatenkind. Der Vater hat die Familie verlassen. Die lebt in einem armseligen Häuschen, mit dem Ohr am Radio und dem Blick in Hochglanzmodekatalogen. Die Situation erinnert an 1945, aber natürlich geht es um die Achtziger, um das Lebensgefühl der "zerrissenen Generation" (ein Song heißt "Random Number Generation"). Eine Passage wirkt im Licht der jüngsten Entwicklungen im CDU-Spendenskandal besonders prägnant - ein Vergleich zwischen der Kontrollsucht von Helmut Kohl und Erich Honecker. Insgesamt ist die Show aber eher ein Konzert mit pointierten Kabarett-Einlagen. 

Mitchell hatte Hedwig im ersten Jahr nach der Eröffnung gespielt und ihr eine Aura voll Witz, Wut und Verletzlichkeit zugelegt. Nun ist Matt McGrath zu sehen. Seine Hedwig ist voller verhaltener Spannung, voller Skrupel, die sich nach und nach in der Demontage ihrer glamourösen Erscheinung entladen. 

Wenn Ende des Monats zum 777. Mal die Abschiedshymne verklingt, geht dem New Yorker Theaterpublikum (zumindest vorerst) auch ein wunderbarer Ort verloren. Das Jane Street Theater liegt im Riverview Hotel am Hudson, einem alten Seemanns-Hotel, in dem 1912 die überlebenden Matrosen der Titanic unterkamen. Produzentin Brinkley ließ im Tanzsaal, der die verblichene Grandeur der Jahrhundertwende bewahrt hat, die Bühne einrichten. Ein kleiner Trost für die Fans: Die Verfilmung mit Mitchell in der Hauptrolle steht bevor und in der Kölner Halle Kalk ist seit Herbst eine deutsche Version zu sehen. 

Bis 31. Januar im Jane Street Theater, 113 Jane Street, New York.
Zeiten: Montag, Mittwoch, Donnerstag 20 Uhr, Freitag 20 & 23 Uhr,
Samstag 19 & 22 Uhr, Sonntag 19 Uhr. Tickets ab 20 Dollar.
Bestelltelefon: (212) 239-6200. 

"Hedwig" in Köln: Inszenierung von Torsten Fischer und Herbert
Schäfer. Halle Kalk, Neuerburgstraße. Nächste Termine: 25., 30.,
31.1.; 3., 7., 9., 10.,.14., 16., 17., 22., 23.2. jeweils 20 Uhr. Tickets
32,50 bis 38,50 Mark. Bestelltelefon: (0221) 221 28400.