Quelle: Freitag 49

Im Gespräch:
Der Phallus ist Kultur

GESCHLECHTERROLLEN
Der Berliner Schriftsteller Michael Roes über Geschlechterrollen, Moby Dick und politische Literatur

FREITAG: In deinen letzten Büchern thematisierst du die Konstruktion der sozialen Kategorien "Rasse" und "Geschlecht". Im "Coup der Berdache" (1999) stehen drei Personen mit "fließenden" Identitäten im Mittelpunkt: ein schwarzer, schwuler Kommissar, eine als Mann geborene Native American und schließlich ein als Transvestit auftretender, glücklicher Familienvater. Im gerade erschienenen Reisebericht "Haut des Südens" (2000) hingegen schreibst du darüber, wie Haut in einer rassistischen Gesellschaft soziale Rollen bestimmt.

MICHAEL ROES: Die Verbindung zwischen beiden Büchern besteht darin, dass angeblich "natürliche" Erscheinungen in Frage gestellt werden. Es wird durchgespielt, dass das, was wir "Rasse" und "Geschlecht" nennen, eben keine biologischen Tatsachen, sondern soziale bzw. kulturelle Konstrukte sind. Es gab durchaus Zeiten und Gesellschaften, in denen diese Konstrukte anders aussahen. Ganz offensichtlich ist das bei dem Begriff "Rasse". Niemand kann sagen, was er eigentlich beschreiben soll. Wenn man nach Amerika geht, und das war auch der Grund, warum ich dort hingegangen bin, stellt man fest, wie absurd die Definition ist. Dort ist alles schwarz, was nicht weiß ist. So kommt es zu dem Phänomen, dass viele Latinos um einiges "schwärzer" sind als Afroamerikaner, die seit vielen Jahrhunderten mit Euroamerikanern zusammengelebt haben. Wenn man diese Konzepte ernst nimmt, landet man bei ganz absurdem Sprachmüll.

Im "Coup der Berdache" sagst du an einer Stelle sehr programmatisch, dass es keine zwei Geschlechter gibt, sondern ein Spektrum, in dem man sich selbst positionieren muss. Bei einem Vortrag hast du Studien zitiert, wonach andere Kulturen mehr als zehn soziale Geschlechterrollen kennen.  

Wie gesagt: Mein erstes Argument wäre, dass es sich bei Geschlechterrollen um kulturelle Modelle und nicht um Natur handelt. Alle Experimente, einen Menschen ohne kulturelle Einflüsse aufwachsen zu lassen, um festzustellen, ob es so etwas wie eine natürliche Entwicklung zum aufrechten Gang oder zur Sprache gibt, endeten mit dem frühen Tod der Kinder. Wir sind ein Gemenge aus Tradition und Gesellschaft, es gibt zwar gewisse biologische Anteile, aber alles was wir sind, wird durch Kultur bestimmt. Das gilt auch für die Geschlechterrollen. Es gibt Gesellschaften, in denen unser Konzept nicht existiert.

Zum Beispiel?

Bei vielen indianischen Stämmen gab es vier, sechs oder mehr sozial definierte Geschlechter. Die biologischen Merkmale kannte man zwar, aber sie spielten keine dominante Rolle. Es gab zum Beispiel Stämme mit "Hyper-Männern", "Männern", "Frau-Männern", Mann-Frauen", "Frauen" und "Hyper-Frauen". Die "Hyper-Frauen" haben nicht geheiratet und etwas sehr Nonnenhaftes besessen. Dann gab es "Frauen", die normale Beziehungen zu "Männern" hatten, und es gab die "Mann-Frauen", die über einen Kleiderwechsel in die soziale Rolle der Männer geschlüpft sind und andere Frauen heiraten konnten. Weil es auch ein anderes Elternkonzept gab, war es kein Problem, eigene Kinder zu haben. Die Schwestern der Mutter waren alles Mütter, die Brüder des Vaters alles Väter.

In Peter Hoegs Roman "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" taucht der Geschlechterwechsel auch auf. Die Mutter Smillas, eine Inuit aus Grönland, lebt als Mann. Bemerkenswert finde ich, dass zwar der Wechsel möglich ist, aber die Dualität von Geschlecht nicht aufgehoben wird. Es gibt "männliche" und "weibliche" Arbeiten.

Jein. Es gibt auch so merkwürdige Phänomene wie das Männerkindbett, couvade, das bei vielen afrikanischen Stämmen praktiziert wird. Die Frauen gebären zwar die Kinder, aber die Männer legen sich ins Wochenbett und kurieren die Schwangerschaftsbeschwerden aus. Selbst biologische Leiden können also kulturell einer anderen Gruppe zugeordnet werden. Die Frauen delegieren ihre Schmerzen und gehen am nächsten Tag wieder normal aufs Feld arbeiten.

Hört sich stark nach einem Trick der Männer an, um sich vor der Arbeit zu drücken.

Ich glaube, das wäre zu sehr aus unserer ›aufgeklärten‹ westlichen Sicht heraus argumentiert. Es unterstellt, dass diese Schmerzen simuliert sind. Es gibt jedoch Untersuchungen, die zeigen, dass Männer, die an der Schwangerschaft von Frauen teilhaben, tatsächlich Schwangerschaftsbeschwerden entwickeln können. Das ist eine Frage der Empathie. Es ist durchaus möglich, sich so sehr mit einem anderen Menschen - unabhängig vom Geschlecht - zu identifizieren, dass man ihm einen Teil der Last abnimmt. Real und authentisch ist das, was die Menschen selber empfinden.

Viele Kritiker haben den "Coup der Berdache" letztes Jahr recht zurückhaltend aufgenommen. Das ist interessant. Nachdem du für das Jemen-Buch "Leeres Viertel" (1996) einmütig gelobt worden bist, haben sie dich bei diesem inhaltlich radikaleren Buch durchfallen lassen. Dein Lektor Mathias Gatza hat das darauf zurückgeführt, dass die Kritiker nicht damit klar kamen, wie Geschlechtsidentitäten bei dir zu verschwimmen anfangen.

Es war auffällig, dass es fast nur Männer waren, die das Buch verrissen haben. Nicht jeder Kritiker hat das gleiche Argument benutzt. Aber offensichtlich hat die Geschichte die Männer provoziert, während sie die Frauen im umgekehrten Sinne befreit hat. Immerhin kämpfen Frauen seit 30, 40 Jahren darum, dass Rollen nicht mehr biologischen Geschlechtern zugeordnet werden. Männer mögen bereit sein, bestimmte Kompromisse einzugehen, aber es bleibt immer noch dieser Rest von "Pseudo-Biologie", den sie nicht aufzugeben bereit sind: sozusagen der Schwanz. Aber selbst das ist eine kulturelle Metapher! Der Phallus ist Kultur, ist Freud, ist ein Konzept. Dazu gibt es längst nicht mehr nur philosophische und soziologische Überlegungen, sondern auch die Untersuchungen über Transsexualität, Intersexualität oder undefinierte Sexualität, die bestätigen, dass das biologische Geschlecht, das soziale Geschlecht und die eigene Definition sehr stark voneinander differieren können. Ich denke, wir werden irgendwann dahin kommen, dass es ebenso viele Geschlechter wie Menschen gibt, und zwar nicht auf einer Skala, auf der man sich anordnen kann, sondern wie in einem Raum, wo es einen eigenen, individuellen Punkt gibt, der nicht mehr nur zwei Pole hat, sondern völlig offen nach allen Seiten ist.

In "Haut des Südens" reist dein Erzähler den Mississippi hinunter und sucht dort nach den Spuren der großen US-amerikanischen Autoren Melville, Twain und Faulkner. In diesem Zusammenhang bezeichnest du Herman Melville (Moby Dick) als radikalen Kritiker von Rassismus und bestehenden Geschlechterbildern.

Autoren wie Melville, die die an Bedeutung aufgeladenen kulturellen Metaphern von Hautfarbe kritisieren und umzuwerten versuchen, sind leider sehr selten. Ich glaube, dass für ihn die Seemannserfahrungen, die er auf den Südseereisen sammelte, so etwas wie eine Initiation des Fremd-Werdens auch gegenüber sich selbst waren. In diesem Sinne halte ich Moby Dick für eines der radikalsten Bücher der US-Literatur überhaupt, weil es so viele Tabus berührt. Die Bedeutung der Hautfarbe wird dekonstruiert. Nicht Schwarz, sondern Weiß ist die Farbe des Unheimlichen und Bedrohlichen. Außerdem setzt Melville das Bild einer gleichberechtigten, von gegenseitiger Verantwortung geprägten Freundschaft zwischen einem Euroamerikaner und einem "wilden" Harpunierer als Alternative zur hierarchischen Schiffsgemeinschaft. Und damit wiederum verletzt Melville nicht nur das Tabu der "Rassenmischung", sondern er lässt auch gleichgeschlechtliche Liebe zu. Zwei Männer gehen auf dem Schiff eine Ehe miteinander ein.

Was an den meisten Lesern vorbeiziehen dürfte ...

Sicher, es gibt da einen weitreichenden Verdrängungsmechanismus. Selbst mein Verleger, der ein großer Melville-Verehrer ist, konnte den Gedanken nicht zulassen, dass es bei dieser Freundschaft auch um Sexualität geht. Ich musste ihm die Stelle vorlesen, wo die Hochzeitsnacht vollzogen wird. Der "Wilde" zieht sich aus, sie schlafen zusammen und schließlich kommt es zur naheliegenden Metaphorik von Harpune und Tomahawk.  

In "Haut des Südens" zitierst du außer Melville auch Twain und Faulkner, kopierst sogar ein wenig ihren Stil. Hemingway dagegen taucht nur am Rande auf.

Zurecht. Den halte ich auch nicht für einen so großen Autoren wie die anderen.

Warum überhaupt diese Auseinandersetzung?

Es geht mir in dem Buch darum, wie Literaten ihren Anteil am Entstehen sozialer Konstruktionen haben. Wenn es um das Verhältnis von Schwarz und Weiß in den USA heute geht, spielen die Gründerväter der Literatur eine große Rolle, und deswegen werden exemplarisch verschiedene Sichtweisen beleuchtet: Twain steht für eine opportunistische, Faulkner für eine ambivalente und Melville für eine hyper-kritische Sicht auf den Rassismus. Sicherlich hätte ich das auch mit europäischen Autoren machen können. Aber in diesem Fall wollte ich die Südstaaten der USA untersuchen, ich hatte den Mississippi als Linie gewählt, um mich an ihm entlangzuhangeln. Meine Sympathien gelten, wie ich schon gesagt habe, Melville, während ich Faulkner zwar für einen großen Autor, aber doch für überschätzt halte. Er hat selbst viel zur Mystifizierung des Konflikts zwischen Afro- und Euroamerikanern beigetragen, indem er die Metaphorik der Hautfarbe verstärkte.

Es hatte also nichts damit zu tun, dass das Bücher deiner Jugend waren? 

Nein. Faulkner begleitet mich immer wieder; Melville natürlich erst recht. Das sind keine Autoren, die zu einem abgeschlossenen Lebensabschnitt gehören. Viel wichtiger ist, dass sie sakrosant sind, Teil des Kanons, des kulturellen Erbe Amerikas. Und die entscheidende Frage für mich war, warum jemand wie Faulkner von den Euroamerikanern so geschätzt werden kann, während Afroamerikaner ihn nie ohne ein komisches Gefühl lesen können; warum uns die Sensibilität fehlt, die Kränkungen Faulkners gegenüber den Afroamerikanern, seine Mystifizierungen des Anderen zu verstehen. Faulkner ist nicht fähig, sich in einen Afroamerikaner hineinzuversetzen, ihn genauso als Mensch zu begreifen wie sich selbst. Er sieht die Haut, und davon müssen wir wegkommen. Wir müssen sie als das sehen, was sie ist: eine Oberfläche.

Irritierend an "Haut des Südens" war für mich die Konstruktion der beiden Hauptpersonen: Der Erzähler ist hautkrank, sein Begleiter schwarz ...

Er ist Afrikaner, ein Reisender aus Nigeria. Von der Unterscheidung in schwarz und weiß sollten wir uns verabschieden.

Gut. Dennoch schafft es eine seltsame Parallele.

Es geht darum, die Oberflächen-Ästhetik zu kritisieren, die sich so stark durchgesetzt hat, und die Haut von ihren kulturellen Konnotationen zu befreien. Die Krankheit des Erzählers wird im Buch zum Exzess getrieben, sie wird parodiert, bis ihre ganze Metaphorik zusammenbricht. Die Krankheit wuchert, der Erzähler wird zu einem elefantösen Menschen, der als Heiliger verehrt wird. Er schält sich, und darunter wird der eigentliche Mensch sichtbar. Das ist eine groteske Darstellung. So etwas ähnliches macht im übrigen auch Herman Melville in Moby Dick. Quiquaeg wird zunächst mit seinen Tätowierungen auf der Haut dargestellt wie der Wilde schlechthin, doch nach der Hochzeitsnacht kommt Ismael zu dem Ergebnis, dass er doch nichts anderes sei als "George Washington in barbarischer Gestalt". Das war im 19. Jahrhundert ein gewagtes Bild. 

Du spielst mit vielen literarischen Formen: collagierst Zeitungsnachrichten, trägst Trauergesänge vor, referierst, lässt predigen. Das wirkt beinahe fragmentarisch ...

Es korrespondiert mit den Autoren, von denen gesprochen wird. Der erste Teil, in dem es um Mark Twain geht, spielt mit den Mitteln Twains: den satirischen Zeichnungen der Personen. Melvilles Moby Dick ist der erste enzyklopädische Roman, er besteht aus Bibelparaphrasen, Lexikonartikeln und ist gleichzeitig ein Abenteuerroman.

Das wäre dann in deinem Buch der Teil, wo du Zeitungsartikel über die Apartheid collagierst ...

Genau. Der Mittelteil, der so etwas wie die Achse des Romans bildet, ist ein Trauergesang über den Tod Martin Luther Kings. Das ist eine Anlehnung an die Tradition des Gospel und eine Art Hommage an die amerikanischen Wurzeln, denn ich denke, dass die kulturellen Wurzeln der USA in Afrika liegen. Der letzte Teil hat dann eine gewisse Anlehnung an Faulkner. Diese Formen sind nicht einfach Spielereien. Es wird ja nicht nur etwas durch Inhalte kolportiert. Auch die Formen, die man wählt, haben etwas mit Kultur zu tun. Durch die Erfindung neuer, zum Beispiel offenerer Formen kann man auch offenere Diskurse in einer Gesellschaft konstruieren. Dort, wo Formen geschlossen sind, ist das auch eine Vorgabe an die Gesellschaft.

Wo wird das Verhältnis zwischen Form und Inhalt funktional? In "Coup der Berdache" beschäftigst du dich theoretisch mit Geschlechter-Identitäten, doch erzählt wird die Geschichte in der Form des Kriminalromans. Eine eingängige, populäre Form ...

Sie korrespondiert mit dem Thema. Im Kriminalroman sind die Menschen nie das, was sie zunächst scheinen. So auch hier: Da begegnen uns Menschen, von denen wir einen Eindruck haben, und je länger wir sie kennen, desto stärker verändern sie sich. Zudem werden die gängigen Rollen von Täter und Opfer aufgelöst, bis es auf diese Frage gar nicht mehr ankommt. Es ging mir also nicht darum, einmal einen Krimi zu schreiben. Es war die Form, die am nächsten am Thema dran war: die Maskierung, das Vorspielen, Vortäuschen, auch Sich-selbst-Täuschen.

Bisweilen gilt das als verpönt, aber du willst offensichtlich etwas vermitteln. Also keine ›Literatur um der Literatur‹ willen?

Was soll das sein: Literatur um der Literatur willen? Es gibt keine Literatur ohne Inhalte, Botschaften, Absichten. Und wenn es sie gibt, ist sie irrelevant. Literatur fängt da an, wo Form, Inhalt und Originalität zusammenkommen. Die Botschaft alleine ist unkünstlerisch, das liest man nicht gerne, es wäre zu platt. Die Form ohne Inhalt hingegen ist Design, und wer will schon Design-Gedichte lesen? Sicher existiert so etwas. Die Pop-Literaten sind nahe dran. Das ist Hintergrundrauschen, das sich vom Pop-Song und der Vorabendserie nicht groß unterscheidet. Ich versuche gegen die postmodernen Unterstellungen anzuschreiben, es gebe kein Gut und Böse mehr, es gebe keine Werte zu vermitteln. Der modernen Form zum Trotz bin ich in dieser Hinsicht sehr konservativ.

Wenn man den Versuch, über Literatur gesellschaftlich zu intervenieren, als politisch begreifen will, bist du ein politischer Autor.

Jede gute Literatur ist politisch. Nicht die Gesinnung, die Parolen oder die Absicht machen sie dazu. Aber dort, wo Literatur widerständig ist, neue Gedanken aufwirft, etwas beim Leser bewegt, ist sie politisch. So gesehen kann eine Geschichte über Engel politisch sein, und gleichzeitig ein Gedicht, das nur aus Slogans besteht, völlig unpolitisch.

Das Gespräch führte Raul Zelik