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Der kleine Unterschied

Zunächst ist es wirklich nur ein kleiner Unterschied, ein winziges Körperdetail zwischen den Beinen, eigentlich kaum der Rede wert.
Und dennoch wird danach die wohl wichtigste Einteilung unseres Lebens vorgenommen – die Unterscheidung in Mann oder Frau.

So bestimmt dieser kleine Unterschied unsere gesamte Sozialisation, unsere Erziehung, unser Verhalten, unsere Kleidung, vielleicht sogar unseren Beruf, unsere Rolle in der Gesellschaft – letztlich unser ganzes Leben. All das ist in einem archetypischen Bild von Mann und Frau, einer Art „geschlechtsspezifischem Dress- und Verhaltenscodex“ verbindlich festgelegt.
Dieser Codex ist so einfach, dass er mit nur drei Adjektiven beschrieben werden kann: Frauen sind schön und schwach, während für Männer kaum eine andere Eigenschaft als Stärke zugelassen ist.
Jeder und jede in unserem Kulturkreis ist trägt dieses Urbild in sich, jeder ordnet sich ihm unter (meist von selbst und ohne es zu merken) und erwartet das auch von allen anderen. Es ist ein grundlegendes Funktionsprinzip unserer Gesellschaft. So weit – so einfach.

Vielleicht aber auch zu einfach.

Denn man muss noch nicht einmal sehr genau hinsehen, um erkennen, dass kaum ein Mensch vollkommen diesem Prototyp seines Geschlechts entspricht. Allein bei den sekundären körperlichen Geschlechtsmerkmalen gibt es wohl mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten – Männer mit schmalen Schultern und breiten Hüften, Frauen mit flacher Brust und „Damenbart“, und alles was dazwischen liegt.
Hinzu kommen soziale Abweichungen von der gesellschaftlich festgelegten „Norm“: Männer, die „unter dem Pantoffel stehen“ oder sich sonst wenig maskulin benehmen, Frauen, die am liebsten im Stehen pinkeln würden - und auch hier gibt es wieder alle möglichen und unmöglichen Zwischenstufen.

Warum halten wir so vehement an einem Geschlechterbild fest, das sich in der Praxis immer wieder als unzureichend erweist? Das dürfte zu den Rätseln unserer westlichen Zivilisation gehören. Die Chinesen sind hier um Einiges weiser – ich denke da an die Lehre von Yin und Yang: Allem männlichen wohnt etwas Weibliches inne (und natürlich auch umgekehrt), das eine kann seine Wirkung nicht ohne das andere entfalten, und nur zusammen ergänzen sich die beiden Seiten zu einem runden und funktionsfähigen Ganzen (das ist jetzt sicher sehr verkürzt – die wahren Kenner fernöstlicher Philosophie mögen mir verzeihen !).

Ich bin so frei, das einfach mal auf den Menschen zu übertragen:
Jeder Mensch ist männlich und weiblich zugleich, wenn auch mit unterschiedlichen Anteilen; jeder hat eine Tag- und eine Nachtseite, eine Ratio und eine Gefühlswelt, ist manchmal dominant und manchmal schwach. Er lebt nur dann in seinem inneren Gleichgewicht, wenn beide Seiten zu ihrem Recht kommen, wenn sie einander ergänzen und gegenseitig bereichern.

Frauen scheinen es wesentlich leichter zu haben, dieses Gleichgewicht zu finden. Das ist kein Wunder, sind sie doch bereits vor Jahrzehnten in die Domänen maskuliner Kleidung und männlichen Rollenverhaltens eingedrungen – und das auch noch auf sehr intelligente Art und Weise: Anstatt nur zu kopieren, haben sie beides auf feminine Art interpretiert, und ihre weiblichen Privilegien – Schwäche zu zeigen, sich zu schmücken – haben sie einfach beibehalten.

So steht den Frauen eine erheblich größere Bandbreite gesellschaftlich akzeptierter Möglichkeiten zur Verfügung, ihrer individuellen männlich-weiblich-Mischung Gestalt und Ausdruck zu verleihen; dabei sind sie noch nicht einmal auf eine bestimmte Rolle festgelegt, sondern wechseln diese je nach Bedarf. Dieses Spiel beherrschen manche virtuos.
Es sind die Heldinnen unserer Zeit – Hera-Lind’s „Superweib“ lässt grüßen.

Die Männer haben es nicht geschafft, in gleichem Maße Nutzen aus der Emanzipation zu ziehen. Und es gibt nicht wenige, die mit der Reduzierung auf nur eine Rolle, auf ein einziges Erscheinungsbild nicht zurechtkommen – ich gehöre wohl dazu …

Kommen wir zum Ziel dieser theoretischen Überlegungen:
Warum soll das, was für Frauen selbstverständlich ist, dem Manne verwehrt werden? Warum nehmen wir uns nicht ganz einfach das Beste aus beiden Geschlechterrollen und finden unsere individuelle Mischung? Warum lassen wir uns immer wieder auf diese eine Rolle des starken Mannes zurückdrängen und schämen uns unserer femininen Seite?

Richtig – es gibt keinen Grund … außer der gesellschaftlichen Konvention und der Angst, sich ihr zu widersetzen.

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