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Transsexueller Wunsch und zissexuelle Abwehr

Ein Artikel aus der Fachzeitschrift Psyche des Jahres 1994.
Autor: Volkmar Sigusch


VOLKMAR SIGUSCH, FRANKFURT AM MAIN

Transsexueller Wunsch und zissexuelle Abwehr*

Übersicht: Der Wunsch transsexueller Patienten, durch hormonelle und chirurgische Eingriffe dem jeweils entgegengesetzten Körpergeschlecht angepaßt zu werden, konfrontiert Psychoanalyse und Sexualwissenschaft mit Problemen, die nicht nur psychologisch zu begreifen sind. Sigusch spricht von Abwehr nicht nur im technischen, sondern auch im epistemologischen, diskurs- und dispositivanalytischen Sinn. Die allgemeinen Dispositive, die die Wirklichkeit von Geschlecht und Geschlechterdifferenz bestimmen, sind zissexueller Natur. Ihre bis ins Physische hinein durchgesetzte Polarität ist der geschlechtliche Binarismus. Zissexuelle nennt der Autor, absichtlich verfremdend, jene Menschen, bei denen Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität fraglos und scheinbar natural zusammenfallen. Erst wenn erkannt wird, daß die zweite Natur in Wirklichkeit die erste ist, kann jene Enttotalisierung des sog. Transsexualismus einsetzen, um die es Sigusch geht.

Im Umgang mit dem Transsexualismus gibt es kein widerspruchs- und konfliktfreies Richtig oder Falsch. Die allgemeinen Widersprüche müssen ebenso ausgehalten werden wie die besonderen Konflikte. Praktisch wäre der transsexuelle Wunsch als eine kreative Ich-Leistung zu verstehen, die eine äußerst bedrohliche Lücke in der psychischen Selbstregulation kompensieren soll, was oft erst mit Hilfe einer Therapie gelingt. Theoretisch wäre der transsexuelle Wunsch als transintelligibel zu begreifen und das individuelle Leiden der sogenannten Transsexuellen als ein Niederschlag transsubjektiver Negativität, die jeder Therapie entzogen ist.

Die Zeiten, in denen Transsexuelle in psychiatrische Anstalten gesteckt, mit Insulin geschockt, mit elektrischem Strom traktiert, zur Zwangspsychotherapie interniert oder gar am Gehirn operiert worden sind, gehören der Vergangenheit an. Heute gehen Transsexuelle auf die Straße, kämpfen um ihre Rechte, gründen Vereine, Zeitschriften und Institute, beeinflussen indirekt und direkt die Entscheidungen der sogenannten Expertinnen und Experten. Diese ahnen mittlerweile, daß in unserer Kultur die Grenze zwischen Wahnsystem und Identitätssysterm bei genauerer Betrachtung verschwimmt wie die zwischen irrationaler und rationaler Wunscherfüllung. Um so notwendiger scheint es zu sein, die Grenze immer wieder zu befestigen.

Da die Medizin ein Konstituens und der Realisator des sogenannten Transsexualismus ist, da sie der Kitt ist, der in historischer wie individueller Hinsicht Transsexuelle zum Kollektiv macht, hat sie die Pflicht, ihre Theorien und Praktiken immer wieder zu überprüfen. Wenn in Operationsberichten steht: Geschlechtsidentität komplett transponiert, Mammae augmentiert, Genitale durch Rollappenpenoidplastik oder Klitorispenoid mit Hodensurrogat transformiert - dann stellt sich bei denen, die noch an Subjektivität glauben, jenes basale Unbehagen ein, das die Allmachtsphantasien des überwiegenden Teils unserer Mediziner durch ihren beinahe automatischen Zusammenfall mit dem herrschenden Objektiv der Machbarkeit und der allgemeinen Tendenz der Verstofflichung erzeugen. Andererseits hat niemand das Recht, Subjekten vorzuschreiben, was für sie in ihrer individuellen Lage angemessen und was unangemessen sei. Sexualwissenschaftler, die in einer Klinik arbeiten, haben auch nicht das Recht, einfach die Augen zuzumachen vor der Verzweiflung der Hilfesuchenden und vor dem zügigen Griff lieber Kollegen ins Waffenarsenal, indem sie die einen auf die unabwendbare Tragik ihres Lebens verweisen und den anderen ihren OP-Geist um die Ohren schlagen. Es wäre nur Größenwahn in anderem Gewand.

Nosomorpher Blick
Nicht als Arzt oder Therapeut, sondern als Gerichtsgutachter habe ich einige Menschen kennengelernt, die den Weg des Geschlechtswechsels ohne Beratung und ohne Psychotherapie bis zum Ende gegangen sind. Sie waren ganz offensichtlich arbeits- und liebesfähig. Als ich einen solchen Menschen zum ersten Mal sah, war ich irritiert, weil ich mir, in eine Therapiegesellschaft hineingewachsen, zunächst gar nicht vorstellen konnte, daß es Geschlechtswechsel ohne unser Zutun gibt. Später dachte ich, ich hätte es wohl, wäre ich betroffen, ebenso getan. Ich hätte nicht akzeptieren können, daß sogenannte Experten entscheiden, wie ich zu leben habe. Über existentielle und über irreversible Eingriffe wie eine Geschlechtsumwandlungsoperation können die Betroffenen letztlich nur selbst entscheiden.

Als Experte dagegen muß ich dem transsexuellen Patienten gegenüber darauf bestehen, meinen eigenen professionellen und nichtprofessionellen Vorstellungen folgen zu können, Vorstellungen, die sich auf Gott, die Welt und die Heilkünste beziehen und auch auf klinische Erfahrungen und Regeln, die ich mir auferlegt habe, um nicht irrationalen Wünschen von Patienten mit verheerenden Folgen der falschen Manifestation unreflektiert und unverstanden zu Diensten zu sein. Dabei versuche ich zu vermeiden, den einen über den anderen zu stellen: den Patienten, der den Wunsch nach Geschlechtsumwandlung unter meiner Behandlung aufgegeben hat, über den, der auf der Operation besteht; den Therapeuten, der es ablehnt, operative Eingriffe zu befürworten, über den, der es tut.

Im Laufe der Jahrzehnte ist der Transsexualismus beinahe allen bereitstehenden nosologischen Entitäten mehr oder weniger bündig zugeordnet worden: Psychosen, Neurosen, Borderline-Strukturen, Fetischismus, Masochismus, negative Perversion, Homosexualität, homosexuelle Panikreaktion (sog. Kempfsche Krankheit), Intersexualismus, dienzephale Neuroendokrinopathie, H-Y-Antigen-Diskordanz usw. (vgl. im einzelnen Sigusch et al., 1979; Sigusch, 1991). Das zeigt dreierlei - die anhaltende Ratlosigkeit der Untersucher, die Abhängigkeit der Diagnostik vom diskursiv und individuell gebrochenen professionellen Blick des jeweiligen Experten und die Mannigfaltigkeit des sogenannten Transsexualismus. Noch aber kann die ganze Bandbreite, von der Bräutigam und Clement (1989) in einem vergleichbaren Zusammenhang gesprochen haben, nicht gesehen werden, weil der entpathologisierende Blick, den Morgenthaler (1980) auf die Homosexualität geworfen hat, den meisten Untersuchern unmöglich ist. Der transsexuelle Wunsch verwirrt so basal, daß sich eine totalisierende Abwehr, die Grauen und Abweichung bannen will, beinahe reflektorisch einstellt, in psychischer wie in epistemischer wie in diskursiver Hinsicht.

Auch der Streit darum, ob der Transsexualismus eine Krankheitseinheit sei oder nur ein Symptom, das bei verschiedenen Grunderkrankungen vorkommt, folgt dem Mechanismus der Totalisierung. Ohne Frage tritt der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung bei den verschiedensten Grunderkrankungen und Grundstrukturen auf, von der Paranoia über die psychotische Depression bis hin zur Anorexie und speziellen Konfliktkonstellationen in verschiedenen Lebensabschnitten von der Kindheit über die Adoleszenz bis hin zum Erwachsenenalter, abhängig von der kulturellen Situation. Hat er sich aber erst einmal organisiert, ob nun »von Anfang an« oder als gemeinsame Endstrecke verschiedenartiger Entwicklungen, ist er selbst »terminal« und zu einer »Entität« geworden, die nicht mehr als vorübergehendes Symptom abgetan werden kann, das einer ganz anderen psychischen Struktur eher oberflächlich aufliege und deshalb beseitigt werden könne. Ist der Wunsch, aus welchen Gründen auch immer, fixiert, gebührt dem Menschen, der damit zu leben hat, jene Achtung und jenes Verständis, die dem persönlichen Schicksal insbesondere dann nicht versagt wird, wenn eine körperliche Erkrankung zu ertragen ist. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß es einen transsexuellogenen Medizinbetrieb gibt, dem wir selbst angehören, daß wir aber andererseits nicht zuletzt deshalb weiterhin Patienten mit dem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung beraten und behandeln, weil wir nicht wollen, daß vollkommen Inkompetente diesen Wunsch organisieren, dann sehen wir, daß den Widersprüchen und Konflikten nicht ausgewichen werden kann. Denn im Grunde sind nicht ganz bestimmte Familiendynamiken transsexuellogen, sondern die allgemeinen Geschlechterdispositive, deren Kern ich, epistemologisch, leib-, diskurs- oder machtanalytisch bestimmt, kulturelles Bigenius nenne.

In dieser Lage gibt es vielleicht nur die Hoffnung, daß die Maßnahmen, von denen die Betroffenen ebenso ergriffen werden, wie sie sie selbst ergreifen, daß diese Maßnahmen umso maßvoller sein werden, je »freier« sie getroffen werden können. Diese »Freiheit« ist das Ziel jeder analytischen Psychotherapie, die zwar nicht kulturelle, sehr wohl aber individuelle Unfreiheiten beseitigen kann. Solange jedoch der Realisator Medizin Transsexuelle generell als besonders »unfreie« Kranke betrachtet, wird die paramedizinische Minderheit der Geschlechtswechsler generell unfrei sein. Deshalb bin ich dafür, daß sich die indizierende und operierende Medizin zurückhält, soweit das überhaupt möglich ist. Fahren wir damit fort, den Transsexualismus in erster Hinsicht oder ganz und gar ätiopathogenetisch zu betrachten, werden wir Expertengeneration um Expertengeneration die jeweils in Kurs gesetzten psycho- und somatologischen Theorien an ihn anlegen und immer wieder vergeblich versuchen, das Rätsel der »Metamorphosis sexualis paranoica« zu lösen, von der vor einhundertjahren v. Krafft-Ebing (1894, S. 224) gesprochen hat. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin natürlich nicht gegen Forschung. Ich will nur einmal gegen den wissenschaftlichen Furor anreden, der alle Erscheinungen des Lebens seinen Kriterien unterwirft, gegen die Unsitte der psychologischen Medizin, alles Anstößige zu psychopathologisieren, gegen die Unsitte der somatologischen Medizin, Hochkomplexes auf möglichst eine faßbare Noxe zurückzuführen, kurzum: gegen den, wie ich gerne sage, nosomorphen Blick, der mehr Krankheiten sieht, als es gibt.

Wenn wir ernsthaft entpathologisieren wollen, sollten wir unseren ordnenden Heilungswillen dämpfen, der, dem geschlechtlichen Grundgesetz »Mann oder Frau« und dem sexuellen Grundgesetz »Mann und Frau« entsprungen, Transgressionen so schwer ertragen kann; sollten wir die Illusion aufgeben, wir könnten eines Tages die »Ursache« der »Krankheit« Transsexualismus (Eicher, 1984, S. 3) finden und damit eine »kausale Therapie«, gar eine »ideale und endgültige Lösung des Problems« (wie ich kürzlich in einer Doktorarbeit las); sollten wir das blinde Befürworten der Geschlechtsumwandlungsoperationen wie das blinde Ablehnen als zwei Seiten einer gesplitteten Rationalisierung begreifen; sollten wir aufhören, befremdliche Menschen als krank einzusortieren, obgleich sie lieben, arbeiten, kreativ sind und lebenstüchtig.

Eine Frage wäre beispielsweise, worin das Gemeinsame, nicht der Unterschied besteht, wenn Psychiater am Beginn des Jahrhunderts (und weit darüber hinaus) ganz sicher sind, bei Revolutionären eine bestimmte »Psychopathie« und bei Frauen, die sich Verhaltensweisen von Männern herausnahmen, einen »moralischen Schwachsinn« diagnostizieren zu können; oder wenn Psychoanalytiker wie Socarides (1971, S. 18, 125, 207) die Homosexualität schon in der Adoleszenz aufspüren, »bekämpfen« und generell »verhüten« wollen, weil es bei Menschen mit dieser Neigung »keine wirkliche Wahrnehmung des Partners oder seiner Gefühle«, vielmehr lediglich »einen anatomischen Haut- und Schleimhautkontakt« gebe; oder wenn wir selbst auf dem Boden der jetzt oder immer noch herrschenden Ideologien und Krankheitslehren am Ende des Jahrhunderts zu dem Schluß kommen, daß bei Transsexuellen eine »Borderline-Pathologie« vorliege. Das wurde, weil außerdem diskursiv ganz auf der Höhe (vgl. Person und Ovesey, 1974), sogleich aufmerksam notiert und rege kolportiert (vgl. Lothste'n, 1983).

Auf diese Weise entstehen Gespinste, in denen sich Professionelle wie Betroffene ebenso beinahe unentwirrbar verfangen, wie sie sich in ihnen wieder einmal wenigstens vorübergehend epistemisch beruhigt niederlassen - bis sie reißen. Auf das Reißen solcher Gespinste, die den allgemeinen mythisch und mystifizierend verstofflichenden Bewußtseinsformen direkt entsprungen sind, müssen viele Generationen warten. Siehe Antifeminismus, siehe Homosexualität. Im Grunde ist es also keine medizinische und auch keine individualpsychologische oder gar individualpathologische, sondern eine kulturtheoretische, epistemologische oder dispositivanalytische Frage, was im Kopf jener Forscher und Forscherinnen vorgeht, die, um es einmal ganz traditionell kritisch zu sagen, ein psycho-sozial Zusammengesetztes und gesellschaftlich Vermitteltes wie die sogenannte Geschlechtsidentität auf eine faßbare »Ursache« zurückführen wollen.

»Frankfurter Modell«
Überlegungen wie diese sind in einem zweiteiligen Aufsatz und in einem daraus hervorgegangenen Buch enthalten, in denen ich frühere Auffassungen revidiere (Sigusch, 1991, 1992; vgl. auch 1994). Ende der siebziger Jahre hatte ich zusammen mit Meyenburg und Reiche einen längeren Aufsatz über Transsexualismus veröffentlicht, in dem wegen des beunruhigenden medizinischen Wildwuchses auch die klinische Untersuchung und die psycho- wie somatotherapeutische Behandlung von Patienten mit einem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung detailliert erörtert worden sind (Sigusch et al., 1979; vgl. auch Meyenburg und Sigusch, 1977; Sigusch et al., 1978; Sigusch und Reiche, 1980). Rückblickend muß ich sagen, daß wir im Verlauf der Jahrzehnte mit keiner anderen Patientengruppe so konventionell, so schulmedizinisch umgegangen sind wie mit den Geschlechtsidentitätsgestörten. Angst hatte ich vor allem vor sogenannten Rückumwandlungsbegehren und Suiziden nach erfolgter Geschlechtsumwandlungsoperation. Insbesondere aus diesem Grund ist unser Untersuchungs- und Behandlungskonzept so penibel formuliert und so komplett geraten. Wir zogen alle medizinischen Register, wollten noch die unwahrscheinlichste Kontraindikation ausgeschlossen sehen und legten (wie heute auch) ganz besonderen Wert auf eine kompetente und zeitlich unbefristete Differentialdiagnostik, die nur in einer therapeutischen Beziehung möglich ist. Wir stellten zwar in psychiatrischer Manier »Leitsymptome« auf, mit denen wir angesichts des Manifestationszwanges der Patienten die »entfaltete und typische transsexuelle Entwicklung bei beiden Geschlechtern« phänomenologisch-deskriptiv beschreiben wollten, wußten aber, daß diagnostisch nicht irgendwelche Leitsymptome entscheidend sind, sondern der sogenannte Alltagstest, das Leben in der intendierten Geschlechtsrolle über eine längere Zeit, und vor allem der Eindruck, der beim Therapeuten im Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen entsteht: »Das ist eine Frau« oder: »Das ist ein Mann«.

Diese nach außen absichernde Vorgehensweise hat nach innen, wenngleich begrenzt, beruhigend gewirkt, jene Ängste und Irritationen der eigenen Geschlechtlichkeit gedämpft, die die Konfrontation mit Transsexuellen immer hervorruft. Auch bei jenen Therapeutinnen und Therapeuten, die bereits klinisch erfahren sind und das Diagnostische nicht vom Therapeutischen trennen, ist das Sicherheitsbedürfnis beim Umgang mit dem Transsexualismus aus irrationalen Gründen gewaltig. In dieser Lage vermag bei uns nichts so viel Ordnung zu schaffen und Sicherheit zu bieten wie das Anwenden eines von den Fachleuten gutgeheißenen Therapieplans. Daß der Wille zur Ordnung, das Sicherheitsbedürfnis und die Ängste derer, die Indikationen zur medizinischen Behandlung stellen, aus sehr ernstzunehmenden rationalen Gründen gewaltig sind, wenn an postoperative Katastrophen, das Mißachten bereits vereinbarter »Standards of Care« und die fachliche Reputation der eigenen Disziplin gedacht wird, scheint mir hingegen eher von Vorteil als von Nachteil zu sein, für beide Seiten, die Patienten wie die Therapeuten. Bei irreversiblen Eingriffen der zur Rede stehenden Dimension kann manfrau schließlich nicht vorsichtig genug sein.

Trotz der formalen Absicherung führte eine fundamentale Gefühlsreaktion auf transsexuelle Patienten, die in klinischen Zusammenhängen als geradezu pathognomonisch für den Transsexualismus und die Reaktion auf ihn angesehen wird, auch bei uns immer wieder zu grundsätzlichen Diskussionen, die in der Frage aller Fragen kulminierten: Stellen wir nun die Indikation zur Operation, oder lehnen wir das aus prinzipiellen Gründen ab? Nach meinem heutigen Verständnis ist diese fundamentale Gefühlsreaktion nicht nur auf das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen zu beziehen, sondern ebenso auf epistemisch und dispositiv fundierte Prozesse, die ich hier als »zissexuelle Abwehr« bezeichne, also auf basale allgemeine Raster, Strukturen und Strategien, die sich in Wissen, Wissenschaft und Erkenntnis ebenso niederschlagen wie in Leib, Gefühl, Wahrnehmung, Verstehen, Interpretation usw. Interne Kehrtwendungen nahmen jedenfalls damals in der Frankfurter Abteilung für Sexualwissenschaft immer dann ihren Lauf, wenn neue Kolleginnen und Kollegen, die sich auf die Arbeit in einer psychoanalytisch orientierten Ambulanz gefreut hatten, befürchteten, in die Machenschaften einer Frankenstein-Medizin verstrickt zu werden. Selbstverständlich mußten dann diese Kolleginnen und Kollegen weder irgendeinen Therapieplan anwenden noch überhaupt geschlechtsidentitätsgestörte Patienten behandeln.

Während wir intern diskutierten, diente unser Konzept anderen »als Modell« (Burzig, 1982, S. 850). Es wurde zum »Leitfaden«, an dem sich, jedenfalls im westlichen wie östlichen Mitteleuropa, »die meisten orientierten« (Pfäfflin, 1994, S. 907). Auch Pfäfflin orientierte sich eineinhalb Jahrzehnte lang an diesem »Modell«, übernahm unsere damalige Strukturdiagnose Borderline-Pathologie bis vor wenigen Jahren (Pfäfflin, 1988) und machte in Aufsätzen und Gutachten trotz einiger kritischer Anmerkungen (Pfäfflin, 1983) unsere »Leitsymptome« bekannt. Jetzt aber bezeichnet er das »Frankfurter Modell« pauschal als »unsinnig«, behauptet, wir hätten selbst »nicht praktiziert« (1994, S. 906) und stellt meine Revision unserer früheren Auffassungen durch die Montage von Zitaten auf den Kopf.

Da die Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift die Publikationen zum Problem des Transsexualismus und die innerhalb der Sexualwissenschaft geführten Debatten wohl kaum verfolgen werden, äußere ich mich an Ort und Stelle. Ich tue das zum einen, weil wir seit Jahrzehnten darum bemüht sind, Analytikerinnen und Analytiker für das Problem des Transsexualismus zu interessieren und für eine Behandlung transsexueller Patienten zu gewinnen, was auch immer wieder gelungen ist (vgl. z.B. Burzig, 1978, 1982; Sigusch und Reiche, 1980; Reiche, 1984; Desirat, 1985; Wolff 1994). Seit ihrer Gründung haben sich in der Ambulanz der Frankfurter Abteilung für Sexualwissenschaft, wie angedeutet, Analytiker und Analytikerinnen mit dem Problem des Transsexualismus auseinandergesetzt und Patienten mit Geschlechtsidentitätsstörungen behandelt. Auch das sogenannte Frankfurter Modell ist aus der Zusammenarbeit von Sexualwissenschaftlern und Analytikern hervorgegangen. Ich äußere mich aber auch, weil ich das Quidproquo nicht einfach übergehen kann, jedenfalls nicht in der Psyche.

Pfäfflin (1994, S. 907) schreibt: »Waren Patienten mit transsexueller Symptomatik in dem Papier von 1979 (Sigusch et al., 1979) als all bad beschrieben worden, so wurden sie in der jüngsten Veröffentlichung, nunmehr umgekehrt, als all good charakterisiert. Als transitorische Minderheit sollen sie im Kampf gegen die Tyrannis des genetischen Binarismus zur Speerspitze werden, ähnlich wie früher in den Thesen und der Praxis des Sozialistischen Patientenkollektivs die Verrückten zu den einzig Normalen in einer verrückten Welt umstilisiert worden waren.«

Tatsächlich habe ich geschrieben: »Während alle Damenimitatoren, Cabaret-Transvestiten, >female impersonators<, oder >stage queens< dieses Jahrhunderts allenfalls die sexuelle Wißgier und die androgyne Sehnsucht ihres Publikums angefacht haben, wiesen das Transgestische und Ambisexuelle der Protestkulturen der 60er Jahre darüber hinaus, indem sie die starre Zweigeschlechtlichkeit, wie äußerlich auch immer, aufweichten und dadurch das anatomisch-gesellschaftliche Bigenus kollektiv in Frage stellten. Davon kann bei den Transsexuellen, die Transsexisten sind, keine Rede sein. Die wollen rechtliche Anerkennung, soziale Leistung und medizinische Behandlung. Haben sie das erhalten, wollen sie nicht mehr als Transsexuelle in Erscheinung treten. Folglich könnten sie höchstens den Status einer transitorischen Minderheit erlangen - eine Sonderbarkeit, die die Soziologie bisher nicht kennt ... Es sieht also so aus, als könnten unsere Transvestiten und Transsexuellen das sehr verbreitete, sich immer deutlicher artikulierende geschlechtliche Unbehagen in dieser Kultur nicht wirksam zum öffentlichen Reden bringen, weil sie der Tyrannis des genetischen Binarisinus im Kopf, mit Leib und Unterleib erliegen, weil sie normalitätssüchtig sind und nicht von der Geschlechtsdysphorie zur Geschlechterentspannung aufzusteigen vermögen« (Sigusch, 1991, S. 328 f.).

Bemerkenswert ist auch, wie Pfäfflin meine Überlegungen mit jenen des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK) Heidelberg kontaminiert. Daß ich zu einer Zeit, als andere noch anatomische Atlanten studierten, die verdrehte Weltsicht des SPK in einem längeren Aufsatz mit dem Titel »Therapie und Politik« (Sigusch, 1980b) grundsätzlich kritisiert habe, beispielsweise mit der Bemerkung, der Kapitalismus sei keine Krankheit, könne folglich auch nicht behandelt werden, wußte Pfäfflin. Außerdern habe ich auf diesen Aufsatz in dem Text, auf den er sich angeblich bezieht, nicht nur hingewiesen, sondern auch dort das Denken des SPK kritisiert. Die Passage lautet: »Nun könnte mein Plädoyer für die Enttotalisierung des Transsexuallismus den Eindruck erwecken, als seien sogenannte Geschlechtsumwandlungsoperationen für mich ganz unproblematisch geworden.... Das ist nicht der Fall. Ich bin aber entschieden dagegen, alle Probleme, die die hiesige Medizin zu bewältigen hat oder selber produziert, auf die winzige Randgruppe der Transsexuellen zu projizieren (ich schätze, es sind in Deutschland 3000 bis 6000 erwachsene Männer und Frauen) oder an ihr nun endlich einmal radikal abhandeln zu wollen - im Sinne der Äußerung Pfäfflins (1980, S. 211):>Skalpell oder Couch: Die Transsexuellen werden zum Paradigma zentraler methodischer Probleme in der Medizin.< Abgesehen davon, daß >die Transsexuellen< natürlich gar kein Paradigma werden können und daß es nur dann um methodische Probleme, geht, wenn therapietheoretische, medizinpolitische, ethische und letztlich anthropologische eingeschlossen sind - ich fürchte, derartig falsch radikale, ideologiekritisch gemeinte Positionen könnten letztendlich auf dem Rücken von Patienten ausgetragen werden. Um das zu vermeiden, muß auf der Differenz von Ideologie- oder Kulturkritik einerseits und der seelisch-sozialen Lage von Menschen andererseits bestanden werden. Therapie und Politik fallen nicht zusammen (vgl. Sigusch, 1980b). Halten wir die beiden Bereiche nicht auseinander, sind wir schnell bei der Parole des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg, die Geisteskranke zu den eigentlichen revolutionären Subjekten erklärte, oder bei ihrem Abkömmling, mit dem jene, die sich den technologischen >Errungenschaften< in besonders auffälliger Weise >anschmiegen<, zu konterrevolutionären, nein: heute würde man wohl eher sagen: zu konformen Nicht-Subjekten dehumanisiert werden« (Sigusch, 1991, S.243).

Kritisiert habe ich in dem Aufsatz, aus dem zu zitieren Pfäfflin vorgibt, neben vielen anderen Transsexualismusforschern also auch ihn. Ich fand es vor allem bedauerlich (und finde es nach wie vor, obgleich er jetzt wenigstens die Initialphase einer analytisch orientierten Psychotherapie mitgeteilt hat), daß er keine Behandlungsberichte vorlegte. Statt dessen betonte er immer, wie viele Transsexuelle er gesehen habe. Problematisiert habe ich auch, daß er zusammen mit Operateuren einen »Vaginalstent« zu besseren chirurgischen Behandlung transsexueller Patienten publizierte (Medenwaldt et al., 1981) und zusammen mit Humangenetikern untersuchte, ob das Genprodukt H-Y-Antigen »für die Differenzierung der Geschlechtsidentität des Menschen eine Rolle spielt« (Engel et al., 1980, S.498). Die humangenetisch-sexuologische Arbeitsgruppe von Engel und Pfäfflin nahm an einigen Transsexuellen Blut ab und konnte frühere Befunde von Körpermedizinern »grundsätzlich bestätigen« (Engel et al., 1981, S.58). Natürlich brach das alles nach einigen kontrollierten Studien in sich zusammen, wie nicht anders zu erwarten war. Ich frage nun in meinem Aufsatz, der auf 25 Jahre Konfrontation mit dem Transsexualismus zurückblickte und unseren eigenen nosomorphen Blick reflektieren wollte, was wohl im Kopf jener Forscher vorgehe, die am Ende des Jahrhunderts (und ich könnte viele jüngste Beispiele für derartige Unsinnsforschungen aufzählen) ein kulturell Fabriziertes wie die Geschlechtsidentität auf eine körperliche »Ursache« wie das H-Y-Antigen zurückführen wollen.

Psychotherapie und Operation
Doch zurück zum Transsexualismus. Heute wie vor 25 Jahren finde ich den Umgang der Medizin mit transsexuellen Patienten sehr problematisch. Eine Praxis, die wir möglicherweise gar nicht verantworten können, darf nicht zur klinischen Routine werden. Deshalb habe ich mit meinem durchaus provozierenden Aufsatz eine Debatte anstoßen wollen. Erfreulicherweise hat sie inzwischen begonnen (vgl. z. B. Augstein, 1992; Hirschauer, 1992; Lindemann, 1992; Becker und Hartmann, 1994; Wolff, 1994). Außerdem sind gerade zwei sehr anregende Monographien über den Transsexualismus vorgelegt worden, in denen weder psychologisch noch medizinisch argumentiert wird. Hirschauer (1993) geht ethnographisch-konstruktivistisch vor, Lindemann (1993) leibanalytisch- mikrosoziologisch. Alles in allem erfreulich ist auch, daß Pfäfflin jetzt das Problem wieder in der Psychoanalyse zur Sprache gebracht hat, was vor allem aus praktischen Gründen notwendig ist, weil nicht wenige Transsexuelle einer psychoanalytischen Behandlung bedürfen, ganz unabhängig davon, ob die medizinische Behandlung befürwortet wird oder nicht.

In diesem Zusammenhang sei an frühere Debatten erinnert, in denen es insbesondere um die Frage ging, ob Transsexuelle überhaupt einer Psychotherapie zugänglich seien. Als wir jenen Aufsatz schrieben, der dann gewiß nicht ohne mein Zutun für viele Jahre zum »Programm« wurde, waren die Experten in den USA (vgl. z. B. Money und Ehrhardt, 1970) und in der Bundesrepublik (vgl. z. B. Schorsch, 1974) zu dem Schluß gekommen, die hormonelle und operative Angleichung an das intendierte Geschlecht sei die Therapie der Wahl. Dieser Auffassung wollten wir uns nicht einfach anschließen. Wir sahen noch einmal die Literatur durch und berieten uns mit erfahrenen Psychotherapeuten. Die Recherchen ergaben folgendes. Nur der Daseinsanalytiker Schwöbel (1960) hatte offenbar eine erfolgreich abgeschlossene Psychoanalyse eines 36jährigen Patienten mit männlichem Körpergeschlecht veröffentlicht. Die Analyse erstreckte sich über vier Jahre und umfaßte 620 Stunden. Ein Jahr lang drohte der Patient mit dem Abbruch der Behandlung, insistierte auf der Geschlechtsumwandlung und versuchte, den Analytiker von der Sinnlosigkeit seiner Bemühungen zu überzeugen. Schließlich aber konnte der Patient im Verlauf der Therapie eine männliche Geschlechtsidentität entwickeln. Schwöbel (ebd., S. 366, 379) interpretierte die Geschlechtsdysphorie des Patienten nicht als »übermäßige >weibliche Veranlagung<«, sondern als einen »Mangel an weiblichem Erlebnisgut«; letztlich seien »sowohl die männlichen als auch die weiblichen Komponenten seines Daseins unentfaltet und undifferenziert liegen geblieben«, sei der Patient »in seinem leiblich-sexuellen, triebhaften und gefühlsmäßigen Existenzbereich säuglingshaft« gewesen. Zwanzig Jahre nach Abschluß der Analyse schrieb mir Schwöbel (1976), »daß sich bei diesem Menschen ein Strukturwandel vollzogen hat«. Außerdem teilte er mit, daß er selbst zwei andere Patienten in analytische Psychotherapie genommen hatte und daß ihm zwei Behandlungen anderer Therapeuten bekannt geworden seien; alle vier Therapien hätten einen guten Verlauf genommen resp. zu einer gewissen Besserung trotz Abbruchs der Behandlung geführt. Von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen sowie undurchschaubaren oder wenig überzeugenden Psychotherapien einmal abgesehen, stießen wir in der Literatur auch auf einige gescheiterte Psychoanalyseversuche. Thomä (1957) behandelte einen 21jährigen Patienten mit männlichem Körpergeschlecht unter den Bedingungen einer geschlossenen psychiatrischen Station. Im Verlauf der Therapie, der sich der Patient nach 158 Stunden durch Flucht entzog, litt er unter grauenhaften Ängsten, entwickelte massive aggressive Phantasien dem Analytiker gegenüber und geriet mehrfach in psychotische Krisen. Obwohl dem Patienten einige Wurzeln des Wunsches nach Geschlechtsumwandlung bewußt geworden waren, konnte er den transsexuellen Wunsch nicht aufgeben. Auch die Behandlung, über die Socarides (1970) berichtete, basierte nicht auf einem Arbeitsbündnis. Sein 20jähriger Patient willigte nur auf Drängen der Eltern in die Therapie ein unter der Bedingung, daß sie seinem Wunsch nach Geschlechtsumwandlung stattgeben würden, wenn die Analyse erfolglos bliebe. Obgleich auch Socarides einige unbewußte Wurzeln des transsexuellen Wunsches aufdecken konnte, verlor dieser nicht an Intensität. Der Patient nahm während der Psychotherapie heimlich Östrogene ein und brach die Analyse nach sechs Monaten ab.

Auf dramatische Weise machten diese Behandlungsberichte für uns »die Grenze deutlich, bis zu der die Analyse vorangetrieben werden muß, wenn der Kern des unbewußten Wunsches erreicht werden soll, der dem Verlangen nach Geschlechtsumwandlung zugrunde liegt« (Sigusch et al., 1979, S. 285). So meinte Socarides (1970, S. 346), bei seinem Patienten, dem »Plaster-of-Paris-Man«, habe dem transsexuellen Wunsch »eine voll ausgereifte paranoide schizophrene Psychose mit katatonen Elementen« zugrunde gelegen. Bei dem Patienten von Thomä überschritten die in der Übertragung regressiv wiederbelebten grauenhaften Ängste vor der Verschmelzung, Auflösung und Vernichtung nach unserem Eindruck jenes Ausmaß, das wir von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder mit einer perversen Entwicklung kannten. Hinzu kam für uns schließlich, daß der Daseinsanalytiker Boss (1950/51 b, S. 637) nach einer 50stündigen Analyse eines Patienten bewußt als Psychotherapeut »abgedankt« und eine operative Umwandlung vom männlichen zum weiblichen Körpergeschlecht befürwortet hatte. Der Patient soll nach dem Eingriff zu einer echten inneren Ruhe gekommen sein. Mitscherlich (1950/ 51 a), der einen diesbezüglichen Vortrag von Boss in der Psyche referiert hatte, veranstaltete eine Rundfrage unter namhaften deutschsprachigen Psychiatern und Psychoanalytikem, deren Voten nach wie vor höchst lesenswert sind (vgl. Mitscherlich, 1950/51 b; Boss, 1950/51 a, 1951). Die meisten billigten die Entscheidung von Boss oder hielten sich bedeckt; etliche aber lehnten sie deutlich und grundsätzlich ab.

Im Gegensatz zur herrschenden Meinung sahen wir am Ende der siebziger Jahre die Frage der Behandlung transsexueller Patienten als »nicht ein für allemal beantwortete an und äußerten den Verdacht, daß »das bisherige Versagen der Psychotherapie auch merklich zu Lasten der Therapeuten« geht, »wie der Erfolg von Schwöbel lehren könnte« (Sigusch et al., 1979, S. 289). Wir entschlossen uns, medizinische Eingriffe bei transsexuellen Patienten nur unter der Voraussetzung als indiziert anzusehen, daß eine analytische Psychotherapie lege artis versucht oder von kompetenter Seite als nicht möglich ausgeschlossen worden war. Der erste Punkt des Frankfurter Therapieplans sah entsprechend vor, die Behandelbarkeit über einen Zeitraum von mindestens einem halben Jahr zu prüfen. Eine treffende Kritik von Langer (1985) aufgreifend, habe ich später dieses Arrangement als ein »Manöver der Selbsttäuschung« (Sigusch, 1991, S. 231) bezeichnet. Da wir die meisten Patienten nicht selbst behandeln konnten, verschoben wir das Problem nach außen. So wurde der von uns verlangte Nachweis, daß mit einem Patienten eine Psychotherapie nicht möglich war, in sein Gegenteil verkehrt, weil mit einem Therapeuten kein Arbeitsbündnis geschlossen werden konnte. Entweder war keiner bereit oder die Patienten bemühten sich nicht wirklich um einen Therapieplatz. Wir aber mußten uns die Hände nicht. »schmutzig« machen, delegierten unbewußt Verantwortung, befreiten uns von Schuldgefühlen (vgl. dazu auch Burzig, 1978,1982).

Im Verlauf der Achtziger Jahre plädierten jedoch die einen Experten für Psychotherapie (z. B. Lothstein und Levine, 1981; Springer, 1981; Meyenburg und Ihlenfeld, 1982, 1983; Desirat, 1985; vgl. auch später Meyenburg, 1992), die anderen für Operationen (z. B. Eicher, 1984). Die Kooperation, die Langer (1985) einklagte, wurde immer strikter vermieden. Nicht, daß mir dieser Rigorismus fremd wäre. Aber heute sollten wir doch verstanden haben, daß der Transsexualismus mittels der Gegenübertragungsreaktionen und die zissexuelle Abwehr mittels des geschlechtlichen Binarismus dazu treiben, ja oder nein zu sagen ohne Kompromisse. In meinem Kommentar zum Transsexuellengesetz, an dessen Formulierung ich nicht ganz unbeteiligt war, heißt es apodiktisch: »Der Transsexualimus ist eine seelische Krankheit und gehört daher mit seelischen Mitteln behandelt« (Sigusch, 1980a, S. 2745). Heute glaube ich noch weniger als früher, psychoanalytische Behandlungen könnten das ganze Leben eines Patienten »erfassen«, verstehen oder gar begreifen. Heute bin ich noch eher bereit, »abzudanken«, um an das Wort von Boss zu erinnern, das er benutzte, als er verständlich machen wollte, warum er bei seinem Patienten eine Operation jedenfalls nicht verhindert hatte.

Jenen, die »die aktive oder passive geistige Kastration der körperlichen vorgezogen« hätten, mochte Boss (1950/51a, S.399), den totalisierenden Spieß umdrehend, nicht den »Vorwurf einer gewaltigen und höchst eigenmächtigen Überschätzung der materiellen Leiblichkeit des Daseins zuungunsten seiner spezifisch menschlichen, seelisch-geistigen Bereiche« ersparen. Entdramatisierung scheint angesichts dramatischer Entscheidungen kaum möglich zu sein. Um so wichtiger ist es, der Illusion zu begegnen, wir könnten bei psychischen Erkrankungen immer auf somatische Behandlungen verzichten. Andererseits kann, wenn überhaupt, nur Psychotherapie über eine längere Zeit zu einer Entdramatisierung führen, wenn wir die Veränderungen, die das Leben bewirkt, einmal nicht berücksichtigen. Heute setzen viele Experten nicht mehr Psychotherapie und Somatotherapie einander diametral entgegen. »Erst die Verfügbarkeit operativer Möglichkeiten erlaubt manchem Patienten die Einsicht, daß er nicht transsexuell ist« (Langer, 1985, S. 82). Ergebnisse katamnestischer Studien bestärken diese Auffassung (vgl. z. B. Meyer und Reter, 1979; McCauley und Ehrhardt, 1984; Kokott und Fahrner, 1987). Offenbar beruhigt bereits die Möglicbkeit, eines Tages vielleicht doch operiert zu werden, etliche Transsexuelle.

Operationsdispositiv
Die wirksame Realität von Operationsphantasmagorien, die es nicht nur bei Transsexuellen gibt, verweist darauf, daß der Mechanismus der Therapeutifizierung zu einem allgemeinen geworden ist. Wir leben seit einigen Jahrzehnten in einer Therapiegeselischaft. Therapie ist - tendenziell zum Leben geworden, Leben tendenziell zur Therapie. Es fällt schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. Nicht nur viele Transsexuelle bleiben ein Leben lang von »Behandlungen« abhängig, weswegen ich von einer paramedizinischen Subkultur gesprochen habe. Auch viele Zissexuelle werden ein Leben lang behandelt oder behandeln sich selbst. Das reicht von Medikamenten, beispielsweise Antihypertensiva und Psychopharmaka, die massenhaft verordnet werden, über Verfahren wie die Fußzonenreflextherapie bis hin zu den Selbsthilfegruppen und dem Müsli zum Frühstück. Und es gilt auch für operative Eingriffe. Ich denke an die zahllosen Leistenbruchoperationen bei Männern oder Gebärmutteroperationen bei Frauen, die ärztlich nicht indiziert sind; an die Appendektomien bei jungen Mädchen, die nur psychoanalytisch zu verstehen sind (Hontschik, 1988); an die massenhaften Schönheitsoperationen, denen sich zunehmend auch Männer unterziehen; an die Eingriffe der Wiederherstellungschirurgie, die auf der Grenze zwischen individueller Intention und medizinischer Indikation liegen; an die operative Rekonstruktion von Präputien bei Männern, die beschnitten worden waren, und von Hymen bei Frauen, die wieder Jungfrauen sein wollen; an die gynäkologischen Gewalteingriffe beim Vaginismus; an die sogenannte Penisimplantationsoperation und die sogenannte Schwellkörper-Autoinjektions-Therapie, im Klinikjargon SKAT genannt, bei Männern mit Erektionsstörungen, invasive Techniken, die heute alle anderen Therapien der Impotenz verdrängen (vgl. Sigusch, 1995); an die sich selbst als »Zivilisierungstechnik» anpreisende stereotaktische und sonstige Psychochirurgie (vgl. Sigusch, 1978), gegen die ich zusammen mit Alexander Mitscherlich schon vor vielen Jahren angekämpft habe; und so weiter.

Operative Eingriffe und zum Teil drastische Manipulationen am eigenen Leib, auf die in einem psychoanalytischen Zusammenhang zuletzt Louise j. Kaplan (1991) hingewiesen hat, sind offenbar in diesem Jahrhundert bei uns zu einem psychisch ebenso bedeutsamen wie mittlerweile kulturell etablierten Modus geworden, die Not des Lebens wenigstens vorübergehend zu bannen. Doch alle Weit redet nur von den Transsexuellen. Ganz offensichtlich gibt es aber Millionen Zissexuelle, für die chirurgische Eingriffe nicht in erster Hinsicht lebensbedrohend, sondern lebenserhaltend sind, für die Operationen nicht die Bedeutung einer Verstümmelung, sondern einer Restitution haben, ob sie nun seelentheoretisch den Resultaten einer enormen Abwehrformation zugerechnet werden oder nicht.

Im Operationsdispositiv verschränken sich untrennbar kreative und verstofflichende, verlebendigende und totstellende, produktive und unproduktive allgemeine Tendenzen. Am deutlichsten zeigt wohl die Wiederherstellungschirurgie beide Züge, wenn sie beispielsweise Patienten mit einem Down-Syndrom ein »menschliches Antlitz« konstruieren will. Irritiert sind wir, wenn wir hören, wie viele Menschen sich die Lippen, die Nase, die Zunge, den Bauchnabel, den Penis oder die Schamlippen durchstechen lassen, um Schmuckstücke zu tragen. »Piercing« heißt diese Leibestechnik. Entsetzt sind wir, wenn ein Mann den Frauenarzt ersucht, die Vagina »seiner« Frau nach den gleich mitgebrachten Maßen seines Penis zurechtzuschneidern, wie mir »aus der ärztlichen Praxis« berichtet wurde. Wir denken dann an Pygmalion, den legendären König von Kypros. Doch die Legende ist längst zur technologischen Wirklichkeit geworden, und der kulturelle Phallozentrismus ist noch lange nicht am Ende.

Die Geschlechtsumwandlungsoperationen gehören zu den Realitäten, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Sie sind in die Welt des Machens gesetzt, schulmedizinisch und versicherungsrechtlich als Behandlungsverfahren anerkannt und indirekt mit einer letzten zivilisatorischen Weihe versehen, dem Transsexuellengesetz, einer lex specialis. Als Möglichkeit werden die Eingriffe für immer bleiben. Weil das so ist, darf die Kritik des herrschenden OP-Geistes und des somatischen Denkens in der Medizin nicht an Patienten exekutiert werden. Während das bei Frauen mit einem an Besessenheit grenzenden Kinderwunsch kaum wurde (um nur ein weiteres Beispiel aus der heute »normalen« medizinischen Praxis zu wählen), selbst dann nicht, wenn Reproduktionsmedizin und Genmanipulation als »Errungenschaften« der Moderne kritisiert wurden, die die ganze Menschheit bedrohen, taten einige Experten immer wieder so, als könnten ausgerechnet Transsexuelle den allgemeinen Mystifikationen widerstehen. Übersehen wurde dabei, daß sie seelisch vielleicht noch anfälliger sind als andere, der gesellschaftlichen Strategie der Therapeutifizierung und damit dem Operationsdispositiv zu erliegen.

Da ist es schon sinnvoller und vielleicht auch humaner, über den abgezirkelten Schatten der eigenen Profession zu springen und sein eigenes disziplinär-autistisches Denken zu relativieren. Wer das tut, muß auf Illusionen verzichten. Das aber fällt niemandem leicht. Der Chirurg kann dann nicht mehr, dem magisch verstofflichenden Denken erliegend wie der Transsexuelle, Operationen als das total Gute phantasieren - und der Psychotherapeut nicht mehr als das total Schlechte. Wunsch und Abwehr können in ein produktives Verhältnis treten. Die Probleme sind damit natürlich nicht beseitigt. Denn zu Recht lehnen wir körperliche Eingriffe dann ab, wenn wir den Eindruck haben, daß sie auf unbewußte, also undurchschaute Motive zurückgehen, beispielsweise auf Selbstbestrafungstendenzen beim intensiven Wunsch eines sexuell perversen Mannes nach Kastration, Tendenzen, die der Patient nicht reflektieren kann. Wir hätten, folgten wir den Forderungen des Patienten, den Verdacht, einer doppelten Unfreiheit Tribut zu zollen: der individuellen des Mannes und der allgemeinen der Kultur, die die Perversion liquidieren will. Eingeklemmt zwischen Hemmung und Heuchelei versuchen wir, uns der operativ diskursiven »Kollusion« zu entwinden.

Weil diese Momente auch beim Transsexualismus eine nicht unwesentliche Rolle spielen, müssen wir die Grenze zwischen professioneller Entscheidung und Selbstbestimmung ständig neu und in jedem Einzelfall zusammen mit dem Patienten bestimmen. Wenn der Wunsch nach Geschlechtswechsel mit Konflikten und Krankheiten verknüpft ist, die das übliche Maß seelischer »Unfreiheit» nach meinem Eindruck übersteigen, habe ich als Professioneller, der konsultiert wird, das Recht und auch die Pflicht, irreversible Eingriffe zu verhindern, jedenfalls nicht zu befürworten. Wird aber in der Psychotherapie ein Punkt erreicht, an dem der Patient das, was er wünscht, zu überblicken scheint einschließlich der Konsequenzen, also nicht »unfreier» ist als wir alle, kann er nur noch selbst entscheiden. Der Therapeut sollte sich, an diesen Punkt gelangt, auf die Subjektivität seiner Urteile besinnen und eine weitere Totalisierung, vielleicht die gravierendste, in sich relativieren, eine Totalisierung, die genau zu wissen meint, wer frei genug ist, über sein Leben zu entscheiden, und wer nicht, wer gesund und wer krank ist.

Zissexuelle Abwehr
Nun war wiederholt von zissexuell und Zissexuellen die Rede, und die Leserinnen und Leser werden sich gewiß schon ihren Reim gemacht haben: Wenn es Transsexuelle gibt, muß es logischerweise auch Zissexuelle geben. Die einen sind ohne die anderen gar nicht zu denken. Gestattet habe ich mir, die Ausdrücke Zissexualismus, Zissexuelle usw. einzuführen, um die geschlechtseuphorische Mehrheit, bei der Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität fraglos und scheinbar natural zusammenfallen, in jenes falbe Licht zu setzen, in dem das Dispositiv des Geschlechtsbinarismus, in dem nosomorpher Blick und klinischer Jargon die geschlechtsdysphorische Minderheit, namentlich die sogenannten Transsexuellen, ganz sicher erkennen zu können glauben.*1

Die alte Sexuologie kannte zwar nicht den Ausdruck Zissexualismus; Hirschfeld hat aber, nachdem er die Bezeichnung »Transvestitismus« eingeführt hatte (1910, S.299f.), von »Cisvestiten» gesprochen (1914, S. 169): »Bald nach Erscheinen meines Transvestitenbuches suchte mich ein sozial ziemlich hochstehender Mann mit der Bemerkung auf, er sei >Cisvestit<. Ich wußte zunächst nicht, was er meinte, er erklärte mir dann, daß er nicht den Drang verspüre, in den Kleidern des anderen Geschlechts zu gehen, er hätte aber eine Neigung, die an Intensität der transvestitischen Leidenschaft nichts nachgebe, sich zeitweise als Lakai zu kleiden. Er habe als solcher auch schon zeitweise völlig unerkannt in einem feinen Berliner Hotel als Aushilfe gearbeitet.« In seiner Geschlechtkunde unterschied Hirschfeld (1928, S, 81) dann Alterszisvestiten, die sich mit dem Mittel der Kleidung ein jüngeres Aussehen verschaffen, und Standeszisvestiten, die sich höher oder tiefer stellen, wie sein Besucher. Da die alte Sexuologie die Neigung hatte, aus allen Sonderbarkeiten irgendwie abgerenzte Gattungen zu machen und dann mit Eigennamen zu belegen, andererseits aber die Neigung der Menschen, sich zu verkleiden ebenso humanspezifisch wie ubiquitär (und oft ritualisiert) ist, gerieten ihr einst vorklinische Travestien zu Morbiditäten. Allein durch die Tatsache, daß sie sie klinisch erfaßte, klinisch interpretierte und in ihre Register aufnahm, wurden sie, ob nun subjektiv intendiert oder nicht, pathologisiert, standen fortan unter Verdacht. Eine Verkleidung als Baum hieß dann beispielsweise Dendrophilie und wurde so behandelt. Damit will mein Verfremdungsspiel nichts zu tun haben.

Zu tun haben will es mit jener die bereits gezogenen Gattungs- und Morbiditätsgrenzen überschreitenden, die dispositiven Panzer aufbrechenden Fußnote, die Freud 1915 den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905, S. 44 ff.) hinzufügte. Dort ist bekanntlich die Rede davon, daß »auch das ausschließliche Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbsverständlichkeit ist«. Diese Aufklärung konnte nicht gelingen, weil die Heterosexualität als Chemie genommen wurde, die sich naturgesetzlich durchsetzt. Freud aber »widersetzt« sich in jener atemberaubenden Fußnote »mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen. Er widersetzt sich, weil »alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen haben«.

Daß Freud nicht In der Lage war, seine eminent humanen Gedanken von der sexuellen Sphäre auf die geschlechtliche zu übertragen, ja daß er sich als Aufklärer selbst im Stich ließ, sobald es um Männlichkeit und Weiblichkeit ging, schmerzt uns heute, weil das »feministische Bewußtsein«, von dem Gerda Lerner (1993) handelt, endlich die alte Geschlechtskultur merklich tangiert. Wie beinahe alle großen männlichen Aufklärer war Freud unfähig, das allgemeine Bigenus und den damit verbundenen sexus sequior-Charakter des »Weibes« als fabrizierte Selbstverständlichkeiten zu durchschauen. Christa Rohde-Dachser (1991) zeigte sogar, wie sehr scheinbar geschlechtsneutrale Nuklei der Freudschen Lehre vom kulturellen Patriarchalismus durchdrungen sind. Wirklich kein Vergnügen, solchen Analysen zustimmen zu müssen. Um so notwendiger, noch die letzten ideae innatae aufzulösen, noch das letzte Raunen unvermittelter Natürlichkeit zu dechiffrieren.

Denken wir also mit dem Freud der Fußnote gegen den Freud der Nuklei, betrachten wir nicht nur den Transsexualismus als conundrum, wie ihn Jane Morris (1974), eine Betroffene, nannte, sondern auch den Zissexualismus. Dann erfahren wir, indem wir andere als die manifesten geschlechtlichen Empfindungen und Erlebnisse studieren, daß alle Menschen andersgeschlechtlicher Phantasien fähig sind und sie auch haben. Weil es das eigene Geschlecht ohne das andere gar nicht gäbe, haben sie im Seelenleben gewiß keine geringere Bedeutung als die, die sich auf das eigene Geschlecht beziehen. Die männliche und die weibliche Geschlechtsform sind in diesem Sinn Einschränkungen nach der einen oder anderen Seite, mithin die männliche Geschlechtsidentität des Mannes und die weibliche Geschlechtsidentität der Frau ein aufzuklärendes Problem und keine Unmittelbarkeit, die aus einer naturalkörperlichen Verursachung a la H-Y-Antigen folgte. In autochthon psychoanalytischer Hinsicht sind wir alle »transsexuell«; Freud würde sagen: bisexuell. Transsexueller Wunsch und zissexuelle Abwehr liegen ineinander. Dieser erschütternden Einheit entziehen wir uns durch emotionale und soziale Mechanismen, die das kulturelle Bigenus festlegt.

Es scheint uns, immer noch, als bringe der Körper die Geschlechtsidentität, ein Fabriziertes, wie eine Mitgift mit. Erst durch das massenhafte kulturelle Unbehagen am Geschlecht, durch die Zunahme kultureller Geschlechtsdysphorie sind wir genötigt, die Verknüpfung von Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität, um nicht mit Stoller (1968) zu sagen sex und gender, in unseren Gedanken Stärker, vielleicht sogar prinzipiell zu lockern. Dem widersetzt sich jene infantilistische Sicht, die die Entscheidungen über die Verknüpfungen (und Auflösungen) ausschließlich in die frühe Kindheit legt. Weichen werden aber auch nach der Adoleszenz gestellt, und die Dispositive oder Mystifikationen ändern ihre Strategie manchmal schneller, als sich das das Denken in Universalien und Naturkonstanten vorstellen kann. Nichts gegen die Annahme von sehr frühen Dispositionen. Dispositionen müssen aber erst noch realisiert und formuliert werden. Deshalb kann ein Mensch mit 17 Jahren vorübergehend als »transsexuell« in Erscheinung treten oder erst mit 50 Jahren als »homosexuell«. Gelockert werden, wie wir wissen, die Verknüpfungen von Trieb und Objekt, Trieb und Ziel, um Freuds Entzerrungen zu nehmen. Daß offenbar immer mehr Frauen von der einer Sexualform zur anderen zumindest partiell hinüberwechseln, hat Sonja Düring (1994) gerade berichtet. Ob die Objektwahl hetero- oder homosexuell sei, hänge davon ab, welche Position die Frau im gesellschaftlichen Geschlechterverhältnis einnehme. Die Voraussetzungen einer nichtfixen Objektwahl denkt Düring nicht nur kindheitszentriert individuell, sondern ebenso gesellschaftszentriert kollektiv, wobei sie insbesondere Veränderungen der kulturellen Geschlechtsposition würdigt, die die Frauenbewegung bewirkt hat. Fraglos werden im Augenblick die alten Geschlechts- und Sexualformen umgeschrieben, ohne daß schon, wie einige Feministinnen träumen, ein erotisches Kontinuum gelebt werden könnte. Aber das wäre ein anderer Aufsatz. Hier interessiert nur: daß zissexuelle Abwehr nicht in erster Hinsicht eine Angelegenheit der Psychologie ist, sondern der Epistemologie, Kulturtheorie und Soziologie. Patriarchalismus, Geschlechterverhältnis, Geschlechtsidentität usw. können womöglich wesentlich psychologisch verstanden werden; Gesellschaft aber nicht.

Gewiß spielt bei der Bildung der Geschlechtsidentität eine nicht überschaubare Reihe von Momenten und Faktoren eine Rolle. Dabei können einzelne psychische und körperliche Faktoren, wie es Freud (1905, S. 45) in einem anderen Zusammenhang sagt, »so übergroß ausfallen, daß sie das Resultat in ihrem Sinre beeinflussen. Deshalb gibt es auch in der Literatur über die Psychogenese des Transsexualismus so viele und differente, in sich durchaus überzeugende Erklärungsversuche. Keine psychologische Theorie aber kann die Mannigfaltigkeit des phantasierten und manifestierten Sexogenus auf den Begriff bringen, für sogenannte Männlichkeit und Weiblichkeit nicht und schon gar nicht für den sogenannten Transsexualismus. Denn kein Mensch kann an den allgemeinen Genuierungsdispositiven ganz und gar vorbeileben. Eine freie Geschlechtswahl, von der sich träumen läßt, ist eine Utopie.

Vorgängig sind die gesellschaftlichen Geschlechtsformen, reale Abstraktionen. Das wäre zu begreifen: Die individuelle Vielfalt der Geschlechtsidentitäten und Geschlechtsdysphorien ist unendlich; gleichzeitig sind die allgemeinen Geschlechtsformen weiterhin binär: entweder Mann oder Frau. Alle anderen sind Kranke, Gaukler oder Zwitter, die der Medizin gehören, wenn sie nicht in andere Sektoren der Gesellschaft eingefädelt werden können. Das Problem ist also, einerseits das Schablonisieren individueller sexuellgeschlechtlicher Phantasmata und Lebensweisen zu vermeiden (also die Diagnose »Transsexualismus« nach Möglichkeit über Bord zu werfen, weil sie höchst Differentes zusammenzwingt); andererseits aber der Vorgängigkeit des geschlechtlichen Binarismus, der nur zwei Geschlechtsformen kennt, jenen Tribut zu Zahlen, den er nun einmal bekommen Muß, weil er bis in die letzte Seelenkrypte hineinreicht. Anders können wir das individuelle Leiden nicht ernstnehmen, mit dem uns die glühendsten Verfechter des Bigenerismus, die transsexistischen Transsexuellen, konfrontieren. Anders können wir weder Halt finden noch begreifen, daß sogenannte Transsexuelle und sogenannte Zissexuelle aneinanderkleben wie Pech und Schwefel.

Nur scheinbar paradox ist, daß ausgerechnet jene Transsexuellen, die sich operieren lassen und damit der Unverrückbarkeit der angeborenen Geschlechtlichkeit radikal widersprechen, das weiterhin herrschende Geschlechterdispositiv stabilisieren. Tatsächlich folgte und folgt die medizinisch-juridische Konstruktion der Transsexualität exakt dessen Strategie. Medizin und Recht haben den Geschlechtswechsel ebenso mitfabriziert, wie sie ihn wieder verschwinden lassen. Ein operierter Transsexueller mit männlichem Körpergeschlecht ist fortan nichts als eine Frau; eine operierte Transsexuelle mit weiblichem Körpergeschlecht wird nach dem Gesetz natürlich als Mann geführt. Normalität und Normativität sind dann wieder im Lot. Dem Triumph des momentanen Sieges über das Bigenus folgt zwangsläufig die perennierende Niederlage der Prothetisierung der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit. Da die Prothetisierung (und Plastizität) die Signatur der Zweigeschlechtlichkeit unserer Zeit ist - Madonna und Michael Jackson mögen ihre globalen Protagonisten sein -, verwandeln sich Niederlagen nicht nur Transsexuellen, sondern auch Zissexuellen in Triumphe.

Wenn Transsexuelle heute nicht mehr so starr und nötigend wirken wie früher, selbst in starren und nötigenden klinischen Zusammenhängen nicht, dann ist vielleicht die Annahme erlaubt, daß die Geschlechtsidentität vieler Transsexueller, die wir sehen, nicht mehr so rudimentär, diffus oder brüchig ist, wie es die Forscher vor Jahrzehnten beschrieben haben. Soziologisch betrachtet, würde das bedeuten, daß die Zweigeschlechtlichkeit kulturell und sozialisationstechnisch nicht mehr so alternativ ist, scheinbar und real, nicht mehr so eindeutig binär ausgestanzt. Tatsächlich wissen viele nicht mehr, wes Geschlechts sie eigentlich sind, was eine richtige Frau ist, vom »richtigen« Mann ganz zu schweigen. Wie gesagt, die Geschlechtsformen werden umgeschrieben. Weil das so ist, beachtet Hirschauer (1993, S. 351) nur ein Moment des Problems, wenn er sagt, »daß die Transsexualität einen schützenden Schatten darauf wirft, daß ein großer Teil der Angehörigen der westlichen Kultur selbst zu Geschlechtsmigranten geworden ist«.

Ein anderes Moment ist jenes gleißende Licht, in das die Wanderer zwischen den Geschlechtern das Bigenus hüllen, indem sie es schriller oder radikaler als andere jenem Prozeß der Individualisierung, Egoisierung und Pluralisierung unterziehen, der in unserer Kultur momentan Sexualität wie Geschlechtlichkeit revidiert. In symbolanalytischer Hinsicht konfrontieren uns die Geschlechtswanderer mit zwei wesentlichen, ineinanderliegenden Tendenzen der Moderne: Selbstvernichtung und Selbsterschaffung. Insofern sind die, die die Merkmale der beiden großen Geschlechter kombinieren, vermischen, verwischen und mit ihnen spielen, kurz die, die Gender blending (Devor, 1989) praktizieren, Repräsentanten einer Geschlechterordnung, die die Medizin ebenso mitkonstruiert, wie sie dekonstruiert, indem sie den Grenzfall, den Transsexualismus, der heute Transgenderismus heißen müßte, ungeschehen macht. Sagt die Medizin: kastriert, augmentiert, transponiert, sind die Geschlechtswechsler zum Schweigen gebracht. Diese Seite analysiert Hirschauer (ebd.), für den die Konstruktion des Transsexualismus »in einer Zeit der emanzipatorischen Auflösung der Bedeutung der Geschlechtskategorien den Zeitgenossen die Distinktionschance« biete, »sich trotz allen Aufbruchs noch als problemlose Bewohner der alten Geschlechtskategorien zu wähnen«.

Nicht bedacht aber wird von ihm das Distinktionsrisiko, das das »Gender blending« und der Transsexualismus materiallsiert und symbolisiert. Heiraten heute, umoperiert, ein Mann und eine Frau, die vor der Eheschließung Frau und Mann waren; bekommen heute zum Mann umbehandelte Frauen ein Kind als Mann; leben heute körperlich männliche Geschlechtswechsler ohne Hormonbehandlung und ohne Operation als Frau und umgekehrt; erleben sich heute nach einer Umoperation zur Frau ehedem körperlich männliche Personen als männlich-homosexuell, besitzen also den manifesten homosexuellen Fetisch Penis nur als Phallos - dann sind die alten Distinktionen riskiert, werden uralte Existentialien berührt. Der transsexuelle Wunsch der Zissexuellen, von dem in psychoanalytischer Hinsicht die Rede war, tritt als »Spuk« hervor, wird, wie alle Potentialitäten in dieser Kultur, aus dem »Schattenreich« (Freud, 1892/93, S. 15) der unbewußten Niederschläge ins grelle Scheinwerferlicht der bewußten Manifestation gerissen und totalisiert.

Noch ist der Genuierungszwang stärker als der Sexuierungszwang. An den Sexualformen kann eher irgendwie vorbeigelebt werden als an den Geschlechtsformen. Folglich ist die Obsession transsexistischer Transsexueller, sind ihr Geschlechtswahn und ihre Normalitätssucht ein individueller Reflex auf den allgemeinen Genuierungsdruck und den kollektiven Geschlechtswahn der Zissexuellen, den die meisten noch nicht durchschauen können und perfekt maskieren müssen. Je stärker der allgemeine Druck, desto starrer der individuelle Zwang. Je unerschütterter, epistemologisch und diskursanalytisch begriffen, die zissexuelle Abwehr, desto unerschütterbarer der transsexuelle Wunsch. Das lehrt sogar, wie berichtet, jene klinische Praxis, die nicht mehr diktieren will: entweder Psychotherapie oder Operation. Epistemisch aber sind Wunsch und Abwehr nicht nur eins, sondern gleich weit von ihrem »Ursprung« entfernt, weil die zweite Natur in Wirklichkeit, wie Adorno sagen würde, die erste ist.

Doch auch das ist nicht die ganze Wahrheit. Zu differenzieren wäre die vereinheitlichende Theorie nach der kulturellen Geschlechterdifferenz, die Hirschauer im Gegensatz zu Lindemann zu wenig beachtet. Schon die klinische Praxis lehrt, wie different Mann-zu-Frau- und Frau-zu-Mann- Transsexuelle sind (vgl. z. B. Lothstein, 1983, 1988; Desirat, 1985; Kockott und Fahrner, 1988; Verschoor und Poortinga, 1988; Becker, 1991). Lindemann (1993, S. 11) hat Differenzen theoretisch herausgearbeitet, indem sie signifikante von insignifikanten Körperformen unterscheidet. Die signifikanten Körperformen, zu denen sie Penis, weibliche Brüste und Vagina zählt, sind nicht völlig reflexiv geworden; sie sind »für uns gültige essentielle Bestandteile von Frau- bzw. Mann- sein«. Vor allem der Penis sträube sich »recht erfolgreich gegen seine reflexive Modernisierung«, was wohl kaum überrascht.

Aber selbst wenn Phallozentrismus und Patriarchalismus einmal enden sollten, wird die Generativität, die bei Lindemann unterbestimmt bleibt, nicht vollkommen reflexiv sein. Unhintergehbar ist das Vermögen der einen Körper, Kinder zu zeugen, und der anderen, Kinder zu empfangen und auszutragen. Wie die Vermögen epistemisch strukturiert, leiblich erfahren, psychisch erlebt, sozial gelebt und politisch benutzt werden und auch, auf wie viele »Geschlechter« welcher Ritualität, Alltagspraktik, Transzendentalität oder Reflexivität sie verteilt werden, ist kulturspezifisch und daher veränderbar. Schließlich kennen andere Kulturen, von denen hier leider vor lauter zissexueller Abwehr nicht die Rede war, nicht nur zwei »Geschlechter« wie wir, Ganz und gar in den Arten und Weisen ihrer gesellschaftlichen Konstruktion aber werden sich die generativen Vermögen nie auflösen lassen, wie einige Theoretikerinnen und Theoretiker anzunehmen scheinen. So lauert, roh und eitel, in den Konstrukten und ihren Prothetisierungen eine Potentialität und wartet darauf. daß neue Dispositive, neue Leiber und neue Wünsche installiert werden und mit ihnen Neogeschlechter, deren Namen wir noch früh genug erfahren werden.

(Anschrift des Verf.: Prof. Dr. med. habil. Volkmar Sigusch, Klinikum der J.W. Goethe-Universität, Abteilung für Sexualwissenschaft, Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt am Main)

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* Bei der Redaktion eingegangen am 13.12.1994.
*1 Das isländische cis- bedeutet als Vorsilbe: diesseits. So meint zisalpin: (von Rom aus gesehen) diesseits der Alpen. Das lateinische trans- bedeutet als Vorsilbe: hindurch, quer durch, hinüber, jenseits, über-hinaus. So meint transkutan: durch die Haut hindurch. Zissexuelle befinden sich folglich (vom Körpergeschlecht und vom Kulturellen Bigenus aus gesehen) diesseits, Transsexuelle jenseits.