Karin Fickert hat sich bereiterklärt, ein Rohmanuskript Ihres Buches "Träume nicht dein Leben - lebe deinen Traum !" (Protokoll eines geschlechtlichen Identitätsproblems und dessen Lösung) zur Verfügung zu stellen.
Hier findest Du eine Geschichte, mit der sie Ihren Kindern versucht, Ihre Situiation zu erklären.

Vielen Dank, Karin !


Der Weisse Rabe
oder das
S c h n e e r a b e n h u h n


Eine Fabel über das "Anders empfinden"

MEINEN KINDERN GEWIDMET

© 1997 by Karin Fickert
Veröffentlichungen und Abdrucke (auch Auszugsweise) sowohl privater als auch gewerblicher Art nur mit Genehmigung der Autorin

Es war ein schöner Frühsommermorgen hoch im Norden. Die Sonne kündigte sich mit vorsichtigen glutroten Strahlen, die langsam zwischen den Bergspitzen in die tiefen Täler hineinlugten, an. Es war aber kein normaler Morgen, sondern ein ganz besonderer. Heute sollten nämlich die Raben aus Ihren Winterquartieren im Süden, wieder zurück in die - von Menschen weitgehend unberührte - Gegend kommen. Nur einige wenige kleine Bauernhöfe waren da.
Es dauerte nicht lange und am Himmel zeigte sich eine schwarze Wolke. Aber war es wirklich eine? Sie bewegte sich ständig und veränderte von einer Sekunde auf die andere ihre Form.
Das werden doch nicht..., aber ja, die Raben sind nach einer langen Reise wieder eingetroffen. Nun hörte man auch schon das laute Gekrächze, mit dem sie die anderen Tiere auf sich aufmerksam machen wollten. Müde vom Flug ließ sich der ganze Schwarm am Rande einer Waldlichtung in der Nähe einer Schar weißer Schneehühner, auf den Bäumen und am Boden nieder und bereiteten das Sommerquartier vor.

Einige Wochen vergingen und bei den Rabenfamilien stellte sich Nachwuchs ein. Argwöhnisch beäugten die Schneehühner das Treiben der großen schwarzen Vögel. Es war besser diesen rauen Gesellen aus dem Weg zu gehen.

Nun begab es sich, dass ein kleiner schwarzer Rabe die Schneehühner bemerkte. Es gefiel ihm, wie sie friedlich gackernd den Tag verbrachten. Da gab es nicht so viele kleine Streitereien um das Futter wie bei seinen Artgenossen. Je länger er diese Vögel beobachtete, umso mehr empfand er in seinem Inneren eigentlich gar kein Rabe zu sein. Ganz im Gegenteil, er empfand sich immer mehr in seiner Wesensart den Schneehühnern ähnlich. Er mochte sich nicht an das ständige Kräftemessen und Imponiergehabe seiner Artgenossen gewöhnen. So geriet er immer mehr ins Abseits, und versuchte mit den Schneehühnern zu spielen.
Die mochten das aber gar nicht so gerne, weil es einfach nicht ging, dass sich ein schwarzer Rabe mit den weißen Schneehühnern so einfach vertrug. Sie konnten ja nicht ahnen, was in dem kleinen unglücklichen Raben vorging, und dass er gefühlsmäßig viel mehr ein Schneehuhn war, als ein Rabe. Es war einfach zum Verzweifeln. Ein Rabe wollte er nicht sein, und - um zumindest äußerlich annähernd einem Schneehuhn ähnlich zu sehen - müsste er zumindest das schwarzglänzende Gefieder gegen ein weißes tauschen.
So kam es, dass er wieder einmal mutterseelenallein und betrübt ziellos durch den Wald spazierte. Plötzlich hörte er eine Stimme zu ihm sprechen.
Hallo Schneerabenhuhn! Was soll das, fragte sich der Rabe.
Hallo! Schneerabenhuhn! Es ertönte schon wieder. War er da gemeint? Schneerabenhuhn? Was war das denn, und überhaupt, wer konnte denn nur von seinen geheimsten Sehnsüchten und Gefühlen wissen? Hallo! Wer ist da, rief er ganz aufgeregt zurück. Das tut nichts zur Sache, erwiderte die geheimnisvolle Stimme.

Ist es denn nicht richtig, das du lieber ein weißes Schneehuhn wärst, als ein schwarzer Rabe? Ja, das stimmt schon, antwortete der kleine Rabe zögernd, aber ich sehe keinen Weg wie ich nur zumindest einem Schneehuhn ähnlich werden könnte. Aber, aber, ertönte es wieder von den Baumwipfeln.
Wenn du wirklich bis in dein Innerstes davon überzeugt bist, und du auch bereit bist Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen, so wüsste ich einen Weg, wie du es schaffen könntest. Es ist nicht einfach ,und vieles in deinem zukünftigen Leben wird sich ändern. Das ist der Preis, den du wahrscheinlich dafür bezahlen mußt. Fliege jetzt wieder nach Hause und versuche noch einmal als Rabe zu leben. Wenn du merkst das es wirklich nicht geht, so komme wieder! Wie finde ich dich denn wieder, unsichtbare Stimme, fragte der Rabe. Wenn es soweit ist, wird dich dein Weg automatisch zu mir führen, sprach die Stimme. So flog der kleine Rabe wieder nach Hause.
Er versuchte nun alles nur Erdenkliche, um ein wirklicher Rabe - oder was man halt dafür hielt - zu sein.

Trotz aller Bemühungen kam aber immer wieder die Sehnsucht und auch die Gewissheit hervor kein Rabenvogel sein zu wollen. So wurde er immer trauriger, unterhielt sich nicht mehr mit den anderen und überhaupt, was sollte er denn noch. Wehmütig blickte er von einer Astgabel auf die weißen Schneehühner, da entsann er sich der geheimnisvollen Stimme und begab sich auf den Weg. Eine schier endlos erscheinende Zeit lief er suchend im Wald umher. Plötzlich hörte er wieder die bekannte Stimme rufen: Hallo Schneerabenhuhn! Ja - wo bist du.
Ich bin gekommen, weil ich ganz einfach nicht mehr weiterkann. Bitte sag mir wie
ich es denn schaffen könnte, dass ich mein Leben so leben kann wie ich mich empfinde!

Tja, ich wüsste da schon einen Weg, antwortete es aus den Bäumen. In der Nähe liegt ein kleiner Bauernhof, und der Bauer ist gerade dabei sein Häuschen neu zu streichen. Da habe ich einen Kübel mit weißer Farbe gesehen. Wenn wir nun deine Federn mit der weißen Farbe streichen, so bist du zwar noch immer kein richtiges Schneehuhn, aber es hilft dir möglicherweise dein wirkliches Leben besser leben zu können. Du musst aber wissen, dass du dann nicht mehr so gut und elegant fliegen kannst wie ein Rabe, sondern du wirst genauso wie die Schneehühner hauptsächlich am Boden bleiben müssen. Auch musst du bedenken, dass dich möglicherweise deine jetzigen Artgenossen anfeinden, denn ein weißer Rabe ist nun einmal sehr ungewöhnlich.
Sie werden nicht wissen, wie sie mit dir umgehen sollen, und es kann passieren, daß du überhaupt verstoßen wirst. Bei den Schneehühnern wirst du möglicherweise zwar willkommen sein. Sie sind eher bereit einen sanften weißen Raben zu akzeptieren, dennoch sind deine Füße ein wenig anders und größer bist du auch.

Auffallen wirst du auf jeden Fall. Nun ja, jetzt musst du dich halt entscheiden.
Nachdem sich der Rabe das alles durch den Kopf gehen ließ, fiel ihm die Entscheidung zwar nicht leicht, aber er entschied sich für den Vorschlag, den die Stimme ihm unterbreitete. Er flog auf den höchsten Baumwipfel um nachzusehen, ob es denn diesen Bauernhof gab.
Und wirklich, gar nicht weit entfernt, sah er aus einem kleinen Schornstein Rauch aufsteigen. So flog er schnurstracks hin und sieh da, neben der Scheune stand ein eher flacher Kübel mit weißer Farbe. Nunmehr war der Rabe nicht mehr zu halten. Mit einem Schwung hob er sich ein wenig in die Höhe und ließ sich in den Kübel plumpsen.
Dort planschte er ein wenig umher und breitete dabei auch seine Flügel aus um die weiße Farbe bis in die letzte Federspitze zu bekommen. Durch das Herumhüpfen fiel der Kübel um, und der Rabe fiel auf die Wiese. Nachdem seine Federn noch feucht waren machte er es sich hinter einem Strauch gemütlich und ließ sich von der Sonne trocknen. So wurde aus dem kleinen Raben ein Schneerabenhuhn. Freudig dachte er schon an sein weiteres, schöneres Leben.

Als die Sonne dann Spätabends hinter den Bergspitzen verschwand, wollte sich das zum Schneerabenhuhn gewordene Rabenkind auf den Heimflug machen.
Es nahm sich einen Anlauf um sich in die Lüfte zu heben, aber es ging nicht so wie vorher. Durch die Farbe waren die Federn nicht mehr so geschmeidig und so trat es - einem Schneehuhn gleich - den beschwerlichen Rückweg zu Fuß an. Nach zwei Tagen traf es wieder an der Waldlichtung ein. Die schwarzen Raben waren da, und die weißen Schneehühner liefen auch nach Futter suchend auf der Wiese umher.

Da entdeckten ihn ein paar Raben und fingen fürchterlich zum Lachen an.. Schaut mal alle her! Was haben wir da für einen komischen Vogel. Einen Raben mit weißen Federn !
Sag einmal, willst du etwa so wie Schneehuhn sein, weil du dich so komisch zurichtest. Ja, erwiderte das Schneerabenhuhn leise. Ha, ha, man sieht dir aber an, dass du früher einmal ein richtiger Rabe gewesen bist.
Obwohl,.... irgendwie siehst du jetzt mit deinen weißen Federn doch den Schneehühnern ähnlicher als uns. Rabe kann nie und nimmer ein Schneehuhn sein, krächzte die Rabenfamilie mehrmals im Chor. Wir wollen dich so nicht bei uns haben. Wenn du schon meinst ein Schneehuhn zu sein, dann geh doch hinüber, du Schneerabenhuhn!

Und so machte sich der kleine Vogel auf, um zu den Schneehühnern hinüber zu wechseln. Dort angekommen wurde er von der Schar Schneehühner, die den Disput der Raben mitbekommen haben, ein wenig argwöhnisch, aber doch freundlich aufgenommen. Erfahrungen mit einem zum Schneehuhn gewordenen Raben hatte man dort ja auch nicht. So lebte das Schneerabenhuhn ab diesem Tag auf der anderen Seite der Waldlichtung bei den Schneehühnern.
Die ganzen Ereignisse rund um den Wechsel vom Raben zum Schneehuhn ließen die Sommermonate rasch vorüberziehen.
Es gab zwar hin und wieder Probleme mit den Raben, die ganz einfach das
Vorgehen ihres früheren Spiel- und Artgenossen nicht verstehen konnten, aber der ehemalige kleine schwarze Rabe war in seiner nunmehrigen Rolle als Schneerabenhuhn endlich zur Ruhe gekommen. Es fühlte sich unter den Schneehühnern sehr wohl und hatte endlich wieder Freude am Leben.

So verging die Zeit und die Raben bereiteten sich auf den Flug in den
Süden vor. Auch die Schneehühner wollten schön langsam in tiefere und wärmere Regionen absteigen.

Als nun die Schneehühner ebenfalls aufbrachen um sich ins Tal zu begeben, sagte das Schneehuhn mit der Rabenfigur dass es noch einmal alleine eine Nacht auf der schönen Waldlichtung verbringen möchte. Es käme dann schon nach. Und so geschah es auch. Es saß dicht an einem Strauch und beobachtete das Nordlicht, den Mond und die Sterne. Es war schon sehr kalt. Müde fielen ihm die Augen zu.

Plötzlich war es eigenartig hell. Es schaute sich um und vor ihm war ein wunderschöner, in vielen Farben schillernder Regenbogen, der wie eine
Brücke über die Gletscherspitzen führte. Neugierig wohin den dieser Weg führt, lief es über die Brücke bis diese nach einiger Zeit in einem wunderschönen Tal endete. Die vielfältigsten Vogelarten tummelten sich dort herum. Es hatte den Anschein, dass es dort gar nicht auffiel, dass es ein als Schneehuhn lebender Rabe ist. So fragte es dann schüchtern ein Paradiesvogelpärchen. Wo bin ich denn hier?

Im Land der bunten Vögel, antworteten diese. Wir haben schon von deiner Geschichte gehört. Nun hast du auf deinem nicht leichten Weg auch zu uns gefunden. Wir freuen uns alle, dass du da bist.

Bei uns kann jeder Vogel so leben wie er sich empfindet ohne Angst haben zu müssen, dass er ausgelacht oder benachteiligt wird. Wir waren früher auch alle einmal irgendwo auf der Erde und sind durch unser "anders sein" aufgefallen. So sind wir in dieses Regenbogental gekommen um hier zu leben. Wir haben gelernt tolerant zu sein, und alle Vögel die hier leben in ihrer Vielfalt, Buntheit und Wesensart als gleichberechtigt zu nehmen, deshalb macht es Spaß hier zu sein. Es kommen immer mehr zu uns und so wird unser Land auch immer größer. Willkommen also und viel Vergnügen. Mit diesen Worten entschwand das Pärchen in den nahen Baumwipfel.

Die Sonne ging über den Fjordbergen auf und die Landschaft war seltsam verändert. Eine dicke Schneedecke hat sich über Nacht auf die Landschaft gelegt. Auch die Waldlichtung, wo das Schneerabenhuhn eingeschlafen war, ist unter der weißen Pracht verschwunden. Nur ein Strauch ragte einsam mit seinen blattlosen Ästen hervor. Unter einem Ästchen lugte etwas aus dem Schnee hervor:

Es war eine weiße Feder der man ansah, dass sie vor langer Zeit einmal schwarz gewesen sein musste.