Pressemeldungen zu BürgermeisterIn Lindner
Berliner Morgenpost 1998 Samstag,
12. September 199
Bürgermeister wird
Bürgermeisterin
TAZ Nr. 5643 vom 14.09.1998 Seite 13 Reportage
298 Zeilen
TAZ-Bericht Jens Rübsam
Unser Quellendorf soll sauber werden
Norbert Lindner heißt jetzt Michaela. Der transsexuellen
Bürgermeisterin droht die Abwahl, sie gilt als "Schande
fürs Dorf"
Von Jens Rübsam
Als Bürgermeister Norbert Lindner Mitte Mai seinen
Gemeinderäten in nichtöffentlicher Sitzung anvertraute, er sei
transsexuell, er plane eine Geschlechtsumwandlung, er wolle eine
Frau werden und schon jetzt den Namen Michaela tragen, tat er das
in dem Glauben, fortan ein "glücklicheres Leben"
führen und "weiterhin Bürgermeister von Quellendorf"
sein zu können.
Zwei Jahre im Amt hatte der Bürgermeister damals hinter sich,
das Dorf stand recht ansehnlich da. Ein neues
Feuerwehrgerätehaus. Ein neuer Jugendklub. Mehr Einwohner, genau
1048. Immer noch ein Kindergarten, immer noch eine Schule im
Dorf. Und nun war auch noch das Coming-out geschafft.
"Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum",
sagte Norbert Lindner den Gemeinderäten an jenem Abend. Einer
steckte das der Bild-Zeitung.
Ein schöner Sommertag, dieser Donnerstag vergangener Woche.
Vielleicht der letzte in diesem Jahr. Die Bäckersfrau schließt
um eins den Laden ab, am türkischen Imbiß beißen die
Jugendlichen sich an ihrem Döner fest. Die Alten aus Quellendorf
haben im Garten zu schaffen, an den Bäumen hängen fette
Pflaumen und Birnen. "Mit Gurken", sagt einer,
"war es dieses Jahr nichts." Um viertel nach zwei
halten zwei große Busse vor der Schule, die Kinder kommen nach
Hause. Die Bäckersfrau hat den Laden wieder aufgesperrt. Auf dem
Friedhof pflegen Dorfbewohner die Gräber. Gepflegte Idylle in
der anhaltinischen Provinz.
In Quellendorf ist nichts mehr, wie es einmal war
Durchs Dorf fährt eine Frau in einem schwarzen Audi. Es ist die
Bürgermeisterin. Sie trägt schwarze Pumps und goldene Ohrringe,
auf dem Rücksitz liegt ein Handtäschen aus feinem Leder.
Michaela Lindner kommt vom Friseur, die Haare frisch getönt,
kastanienbraun. Sie grüßt durch die Scheibe. Niemand grüßt
zurück. "Ich will provozieren", sagt sie über solche
Gesten, "ich fordere die Leute heraus, sich mit mir
auseinanderzusetzen."
Am Abend wird der Gemeinderat ein Abwahlverfahren einleiten.
"In Quellendorf ist nichts mehr so, wie es einmal war",
wird der stellvertretende Bürgermeister Pforte sagen. Er hat
nicht ganz unrecht. Tage nach der vertraulichen Mitteilung
Norbert Lindners an seine Gemeinderäte hatte Bild getitelt:
"Bald heiße ich Michaela." Wenig später hieß es:
"Darf Norbert als Michaela regieren?" Da hatten schon
175 Quellendorfer ihre Unterschrift gegeben - gegen Lindner als
Bürgermeisterin. Der Gemeinderat sah "das Vertrauen der
Bürger" nicht mehr gegeben. Eine "Schande für das
Dorf" sei Michaela Lindner, meinten die einen. Eine
"Schwuchtel, die nicht hierhergehört", nannten sie
andere. "Was bei Tieren nicht vorkommt, kann es bei Menschen
nicht geben", hörte man. Schließlich habe man einen Mann,
keine Frau gewählt. Bald kursierten Gerüchte: "Im
Jugendklub hat sie schon in Kleidern getanzt." Herzlichen
Applaus gab es am Donnerstag abend, als sechs von acht
Gemeinderäten den Beschluß abnickten. Am 29. November ist
Abwahltag.
Jutta Lindner wird dann nicht mehr in Quellendorf wohnen. Sie
sitzt in der Wohnstube des kleinen Eigenheims, nimmt Anrufe
entgegen und notiert alles gewissenhaft. Drei Frauen wünschen
ihrem Mann - "für mich ist Michaela noch immer mein
Mann" - alles Gute. Eine fühlt sich an die
"Hexenverbrennungen im Mittelalter" erinnert.
Fernsehsender bitten um Interviews. Ein Politiker der
Bündnisgrünen will helfen. Michaela Lindner ist in der PDS.
Vor zwei Jahren war Norbert Lindner mit über 60 Prozent der
Stimmen zum Bürgermeister von Quellendorf gewählt worden. Im
Frühjahr kandidierte er für den Landtag Sachsen-Anhalts. Er
bekam 7.873 Stimmen im Landkreis Köthen, nur 4.000 weniger als
die Siegerin von der SPD. Den Sprung in den Landtag schaffte er
nicht, dafür stand er in der Landesliste der PDS zu weit hinten.
Heute zeigt sich die PDS erkenntlich, sie unterstützt den, wie
es heißt, "bundesweit ersten Transexuellen in einer
Leitungsfunktion". Für Britta Ferchland, die
stellvertretende Landesvorsitzende, widerspricht das
Abwahlverfahren "dem Grundgesetzgebot der Unantastbarkeit
der Menschenwürde". Der Abgeordnete Matthias Gärtner will
prüfen, "ob hier nicht das vom Landtag verabschiedete
Antidiskriminierungsgesetz greift". Ein Vertreter des
Landratsamtes empfahl den Gemeinderäten: "Was in
Quellendorf in den vergangenen Jahren passiert ist, ist mit dem
Kopf und mit den Händen passiert, nicht mit dem
Geschlechtsteil."
Wieder klingelt das Telefon. "Lindner", meldet sich
Jutta Lindner. "Sie wollen Frau Lindner sprechen? Welche
Frau Lindner?" fragt sie. So geht das täglich, seitdem
bekannt ist, daß Herr Lindner Frau Lindner ist. Viele positive
Anrufe, vor allem von Frauen. Nur einer, ein Mann, schrie in den
Hörer: "Wo ist das Schwein? Das müßte man
umbringen." Nein, Jutta Lindner muß sich das nicht antun.
Sie wird wegziehen von Quellendorf. Das Haus aufgeben, das sie
sich vor zwei Jahren gebaut haben und das heute noch nicht fertig
und noch lange nicht abbezahlt ist. Sie wird sich trennen von
"Michi", wie sie Michaela nennt. "Räumlich
trennen", so wie sie es die vergangenen zwei Monate schon
getan haben. Sie brauchte Abstand und Zeit, die beiden Töchter
brauchten Abstand und Zeit, "weil eine Welt
zusammengebrochen ist". Nicht erst jetzt, seitdem gehetzt
wird im Dorf und fast niemand mehr grüßt. Nein, schon vor einem
Jahr als, "mein Mann mir seine Transsexualität
gestand" und "ich auf einmal eine Frau lieben
sollte".
Norbert Lindner hatte sich den Bart abgenommen, die Haare lang
wachsen lassen, 25 Kilo abgespeckt, angefangen sich zu schminken,
Ohrringe, Kleider und Röcke zu tragen. Komische Röcke.
"Schauen Sie mal." Jutta Lindner geht zum Schrank, holt
einen Minirock hervor, dunkelblau mit Blümchenmuster. "Sein
erster Rock. So etwas zieht doch keine Frau an!" Sie
lächelt ein verzweifeltes Lächeln. Selbsthilfegruppen für
Partner von Transsexuellen gibt es in Sachsen-Anhalt nicht.
Auf den Straßen in Quellendorf befragen Journalisten die
Einwohner. Sie bekommen zu hören, was sie hören wollen.
Knackige O-Töne. "Wenn das mein Sohn machen würde, würde
ich ihn aus dem Haus jagen." "Wenn der morgens bis
abends gearbeitet hätte, wäre er nicht auf solche Gedanken
gekommen." Hätte Michaela Lindner dies gehört, sie hätte
nur schmunzeln können. Sie hat gearbeitet, von morgens bis
abends. "Arbeit war meine Verdrängung."
Das Haus. Immer wieder am Haus gewerkelt. Vom ersten Spatenstich
bis zum letzten Tropfen Farbe, Lindners haben alles selbst
gemacht. Die Firmen. Zwei Unternehmen hatte Michaela Lindner
gegründet und wieder aufgegeben, jetzt ist sie selbständige
Ingenieurin. Das Bürgermeisteramt, ehrenamtlich. Die Sitzungen,
die Sprechstunden. Und die Parteiarbeit, nebenbei. "Wir
hatten keine Zeit füreinander", sagt Jutta Lindner. Keine
Lust auf Sex. Wenn überhaupt, sei es wie eine Pflicht gewesen.
Es sind Erklärungsversuche einer Frau, die nicht begreifen kann,
von den Wünschen ihres Partners nicht schon früher gemerkt zu
haben. Immerhin kennen sich Lindners 19 Jahre, seit 16 sind sie
verheiratet.
Michaela Lindner erzählt das etwas anders: "Im Bett hat es
nicht geklappt, weil ich immer die andere Rolle spielen
wollte." Ausgesprochen allerdings hat sie das nicht. Statt
dessen fuhr sie nach Frankfurt am Main oder Hamburg, zog sich auf
der Autobahn Frauenkleider über, lebte sich aus, fuhr zurück,
zog sich in Raststätten wieder um, und kam als Norbert Lindner
in Quellendorf an. Als Seelenakrobatik auf der Autobahn könnte
man das bezeichnen. Euphorie und Depression bei 120
Stundenkilometern.
Laut maulen, leise zischeln, hämisch grinsen
Bis zu jenem Tag, als sie sich in einer öffentlichen Ratssitzung
zu ihrer Transsexualität bekannte und in den Jugendklub ging, um
die Kids aufzuklären. Sie sprach mit ihnen von
"Krankheit" und der medizinischen Versorgung, die
notwendig ist: Hormonbehandlung, Epilation, schließlich
psychologische Betreuung und Geschlechtsumwandlung.
Im Jugendklub sitzen die, die von den "Simpsons" mehr
wissen als von Transsexualität. "Simpsons"-Schauen ist
Pflicht im Quellendorfer Jugendklub. Es darf geraucht werden.
Getrunken? Bier? Na ja. Remo hat heute Geburtstag, er gibt eine
Runde aus.
Dem Bürgermeister haben sie vergangenes Jahr einen blauen
Kognakschwenker mit goldener Aufschrift geschenkt. "Dem
Herrn Lindner", sagen sie, "haben wir schließlich den
Klub zu verdanken." Und dann sagen sie noch: "Er soll
Bürgermeister bleiben." Lindner hat ihnen das Du angeboten.
Aber das Sagen im Dorf haben die Alten, die wahrscheinlich nicht
einmal wissen, wie man Transsexualität buchstabiert, die
niemanden dulden, der nicht in das übliche Frau-Mann-Schema
paßt, die Schauprozesse anstrengen, um Ordnung zu schaffen im
Dorf.
Wie an diesem Donnerstag in dem kleinen Klasssenzimmer der
Grundschule Quellendorf. In speckigen Hosen sitzen die Bürger
des Dorfes auf Kinderstühlen, die Arme streng vor der Brust
verschränkt, maulen laut, zischeln leise und grinsen hämisch,
als die Frau Bürgermeisterin, adrett gekleidet und fein
geschminkt, des Raum betritt und sich selbst einen Stuhl suchen
muß. Die Einleitung des Abwahlantrages ist schnell beschlossen,
zufriedenes Grummeln. Wenig später, die Einwohnerfragestunde hat
begonnen, sagt einer der älteren Herren: "Im Zuge der
Säuberung unseres Dorfes", er legt eine kurze Pause ein,
"muß man sich auch um verwahrloste Ecken kümmern."
©Berliner Morgenpost 1998 Samstag, 12. September 199
Bürgermeister wird Bürgermeisterin
Ein Dorf und die Affäre um einen
Transsexuellen
Von Dirk Reinhardt
Sichtlich nervös eröffnet Uwe Pforte die Gemeinderatssitzung im
Klassenzimmer der Quellendorfer Schule. Man habe «leider kein
erfreuliches Thema» an diesem Abend zu besprechen, sagt der
stellvertretende Bürgermeister. Etwa 40 Einwohner haben auf den
Zuschauerbänken Platz genommen, fast ebensoviele Journalisten
sind erschienen. Mitten im
Raum sitzt die Person, um deren politisches Schicksal es geht:
eine herb wirkende, stark geschminkte Frau in hellbrauner Jacke,
dunklen Hosen und schwarzen Pumps.
Die Frau, die sich Michaela nennt, ist vor gut zweieinhalb Jahren
mit 60 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister der
1048-Seelen-Gemeinde Quellendorf bei Dessau gewählt worden -
damals unter dem Namen Norbert. Vor zwei Monaten hat sich Norbert
Michael Lindner im Gemeinderat zur Transsexualität bekannt und
die Absicht öffentlich gemacht, nach einer Geschlechtsumwandlung
künftig als Frau mit dem Namen Michaela weiterzuleben. Die
Reaktion kam promt: Einziger Tagesordnungspunkt der Sitzung in
der Grundschule ist der Antrag von sechs der acht Gemeinderäte,
ein Abwahlverfahren gemäß Paragraph 61 der Gemeindeordnung
Sachsen-Anhalts gegen Lindner einzuleiten.
In der Sitzung bemühen sich Uwe Pforte und seine Mitstreiter
(alle parteilos) hartnäckig, Vermutungen über einen
Zusammenhang mit der Transsexualität Lindners zurückzuweisen.
Man habe nur auf «massiven Druck der Bevölkerung» reagiert,
sagt Pforte, der auf eine Liste mit 175 Unterschriften verweist.
Auch einen parteipolitischen Hintergrund - Lindner ist
PDS-Mitglied - gebe es nicht. Eine konkrete Begründung für ihr
Begehren nennen die Antragsteller auch nach mehrmaliger Nachfrage
des Gemeinderates Erich Foßhauer (PDS) nicht.
«Nach der Gemeindeordnung von Sachsen-Anhalt muß ein
Abwahlantrag nicht begründet werden», belehrt Pforte.
Mit sechs gegen zwei Stimmen wird also der 29. November als Tag
der Abstimmung über die Abwahl festgesetzt.
Die anwesenden Quellendorfer sind nach der Sitzung weniger
zurückhaltend. Unisono erklären mehrere auf Fragen von
Journalisten, die übertriebene Selbstdarstellung Lindners in
Talkshows und Interviews der vergangenen Wochen sei der Grund
für den Abwahlantrag. «Sie haben die Medien doch
hergerufen», wirft ein älterer Mann Michaela/Norbert vor.
Eckhard Spanier, in der letzten Legislaturperiode
Gemeinderatsvorsitzender, nennt dagegen übertriebene
Machtbesessenheit als Begründung. Das Vertrauen zu Lindner sei
erschüttert, das Gemeindeoberhaupt sei im Umgang mit
Gemeinderäten und Bürgern zu überheblich aufgetreten. Unter
vier Augen wird eine ältere Frau dann deutlicher: «Die Leute,
welche die Unterschriftensammlung gemacht haben, sagten, man habe
schließlich einen Bürgermeister gewählt und keine
Bürgermeisterin.»
«Fachlich habe ich mir nichts vorzuwerfen», erklärt dagegen
Michaela Lindner. Auch nach dem Outing habe sie ihre Aufgaben
wahrgenommen, bei Bürgergesprächen keinerlei Ablehnung
erfahren. Ihren Gegnern im Gemeinderat wirft sie vor, seit dem
Coming-Out nie das Gespräch mit ihr gesucht und statt dessen
hinter ihrem Rücken die Abwahl
betrieben zu haben. Bis zur Bürgerabstimmung wolle sie die Leute
im Dorf «mit meiner Person konfrontieren, so wie ich jetzt
bin».
Jutta Lindner, die vor sechzehn Jahren Norbert heiratete und mit
ihm zwei Kinder hat, stellt sich neben ihren zur Frau werdenden
Mann. «Michaela, ich werde immer Deine Freundin sein», betont
sie in einer schriftlichen Erklärung.
Das mit der Anrede «sie» sei allerdings noch schwierig, sagt
sie darin auch. Nach so vielen Jahren werde nun eben nicht
innerhalb eines Jahres aus dem Ehemann eine Ehefrau. Gemeinderat
Pforte hat da weniger Probleme: «Solange nichts anderes
vorliegt, ist Herr Lindner für uns ein Mann.»
Montag, 30. November 1998, 12:47 Uhr
Transsexueller Exbürgermeister gibt nicht klein bei klagen - PDS
will Thema in Quellendorf wachhalten Von AP-Korrespondentin
Susann Huster
Quellendorf (AP) Die etwas zu stark geschminkten braunen Augen
schauen traurig. Doch ansonsten ist Norbert Lindner, der seit dem
Sommer den Vornamen Michaela trägt, nichts anzumerken. Mit
elegantem braunem Nadelstreifenkostüm, Pumps und rötlich
gefärbten Haaren steht der transsexuelle Bürgermeister der
Gemeinde Quellendorf in Sachsen-Anhalt äußerlich ruhig im
Gedränge des Wahllokals, als das Ergebnis am Sonntag abend
verkündet wird: 482 der 728 Wähler stimmten für seine Abwahl,
235 waren für den Verbleib des 40jährigen PDS-Politikers im Amt
bei 11 ungültigen Stimmen.
Weit über die Grenzen Deutschlands sorgte das bundesweit bisher
einmalige Votum für Schlagzeilen. Vor allem im Ausland wurde es
als Gradmesser für die deutsche Toleranz gesehen.
Als Norbert Lindner im Februar 1996 zum Bürgermeister von
Quellendorf gewählt wurde, war er ein normaler Mann mit Ehefrau
und Kindern. Doch irgendwann merkte er, daß seine weibliche
Psyche in einem männlichen Körper gefangen ist. Im letzten
Sommer vertraute er den Gemeinderäten seine Veranlagung an. Im
Dorf stieß die Offenbarung meist auf Ablehnung. Es wurden
Unterschriften gegen den Bürgermeister gesammelt, der immer
häufiger in Frauenkleidern gesehen wurde. Der 40jährige stand
dennoch zu seiner Transsexualität. Für die Quellendorfer schien
das ein unhaltbarer Zustand zu sein. Sechs der acht Gemeinderäte
beantragten im September seine Abwahl.
Nun haben sich die Gegner Lindners durchgesetzt. Die
Enttäuschung, die ihm die Quellendorfer bereitet haben, sitzt
tief. «Ein großer Stein ist mir heute in Quellendorf in den Weg
gelegt worden. Ich werde daran vorbeigehen», sagt der
Abgewählte. Ihm zur Seite stehen am Sonntag Transsexuelle, die
aus ganz Deutschland und Frankreich in den Ort im Landkreis
Köthen gekommen waren. Berenice Vogel aus Stuttgart findet das
Verhalten der Quellendorfer «dumm». «Sie ist eigentlich der
gleiche Mensch geblieben. Warum soll man Ehrlichkeit bestrafen?»
Irgendwie verstehe sie jedoch auch die Menschen im Dorf.
Schließlich habe sie selbst am Anfang gegen ihre Veranlagung
gekämpft.
Aggressive Stimmung bei Stimmenauszählung
Der Ansturm von Journalisten und Kamerateams aus dem In- und
Ausland ist vor allem den älteren Dorfbewohnern unangenehm. Kaum
einer will mit den Reportern sprechen. Gleich nach der Wahl gehen
die meisten schnellen Schrittes und mit gesenktem Kopf wieder
nach Hause. Einige wollen sich jedoch das Spektakel, das ihrem
Dorf zu zweifelhafter Berühmtheit verhalf, nicht entgehen
lassen. Sie stehen stundenlang um die Imbißstände herum, die
geschäftstüchtige Quellendorfer gleich neben dem Wahllokal
aufgebaut haben. Die Bäckerin des Ortes hatte sich eigens für
den großen Tag eine Sondergenehmigung besorgt, um am Sonntag
öffnen zu können.
«Hilfe, da gehst du doch kaputt hier», beschwert sich ein
Jugendlicher aus Quellendorf. Tatsächlich wird die Stimmung
immer aggressiver, je näher die Stimmenauszählung rückt. Schon
gibt es in dem engen Wahllokal erste Rangeleien zwischen Gegnern
und Befürwortern der Abwahl. Die Polizei muß eingreifen. Einige
wenige klatschen, als Michaela Lindner die stickige Baracke
betritt. Viel größer ist der Jubel bei der Bekanntgabe des
Wahlergebnisses.
Lindner bleibt gefaßt und bedankt sich zunächst höflich bei
den Wahlhelfern. Am Schluß wünscht er dem Ort alles Gute, auch
wenn seine Abwahl nicht unbedingt eine Werbung für Quellendorf
gewesen sei. Nicht nur dem Dorf, auch Deutschland will der
Ex-Bürgermeister schnellstmöglich den Rücken kehren. Nun werde
er sich jedoch erst einmal auf seine Operation zur
Geschlechtsumwandlung konzentrieren. Zugleich kündigt er an,
gegen das Abwahlverfahren beim Bundesverfassungsgericht zu
klagen, weil er sich wegen seines Geschlechts benachteiligt
fühle. Nach Quellendorf zurückkehren will er aber nicht.
Auch unter einem neuen Bürgermeister werden sich die
Dorfbewohner also mit dem Thema Transsexualität
auseinandersetzen müssen. Dafür will auch die stellvertretende
PDS-Landesvorsitzende Britta Ferchland sorgen: «Sie, meine
lieben Quellendorferinnen und Quellendorfer, werden das Thema
auch weiterhin hören», kündigte sie am Sonntag abend an.
Montag, 30. November 1998, 12:16 Uhr
Transexueller Bürgermeister will vor Gericht
Magdeburg (Reuters) - Der abgewählte transsexuelle
Bürgermeister von Quellendorf in Sachsen-Anhalt will zwar seinen
Amtssessel räumen, gegen die Abwahl aber Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht einreichen. In der Umgebung von Norbert
alias Michaela Lindner hieß es am Montag in Quellendorf, der
40jährige habe sich entschieden, vor das oberste deutsche
Gericht zu ziehen, weil er sich wegen des Geschlechts
benachteiligt fühle. Den Amtssitz in der Gemeindeverwaltung
werde Lindner aber innerhalb von acht Tagen räumen.
Die Bürger des Dorfes mit 1000 Einwohnern hatten Lindner am
Sonntag mit klarer Mehrheit abgewählt. Anschließend erklärte
Lindner, der sich seit Juni 1998 Michaela nennt und Frauenkleider
trägt, er wolle in Kürze aus dem Dorf wegziehen. "Ich sehe
das Ergebnis als Chance, woanders neu anzufangen." Lindner
ist verheiratet und hat zwei Kinder. Am Montag war er nicht
erreichbar.
Eine Freundin sagte, Lindner fühle sich durch das
Abwahlverfahren im Grundrecht auf Gleichbehandlung nach Artikel 3
des Grundgesetzes verletzt. Darin heißt es, daß niemand wegen
seines Geschlechts benachteiligt werden darf. Mehrere
Transsexuelle waren am Sonntag in die Gemeinde bei Köthen
gereist, um Lindner zu unterstützen.
Lindner hatte sich im Juni offen zu seiner Transsexualität
bekannt. Juristisch betrachtet ist Lindner noch Mann, lebt aber
bereits öffentlich als Frau. Das muß er nach Angaben der
Freundin mindestens ein Jahr tun, um eine Operation zur
Geschlechtsumwandlung zu bekommen. Lindner ist seit 1996 für die
PDS Bürgermeister in dem Quellendorf.
Montag, 30. November 1998, 11:52 Uhr
Transsexueller Bürgermeister muß gehen
PDS-Politiker will Deutschland nach Geschlechtsumwandlung
verlassen - Klage vor Bundesverfassungsgericht angekündigt
Quellendorf (AP) Der transsexuelle Bürgermeister von Quellendorf
in Sachsen-Anhalt muß seinen Sessel räumen. In einem bislang
einmaligen Votum in Deutschland enthoben die 1.048 Einwohner der
Gemeinde am Sonntag Norbert Lindner, der sich seit dem Sommer
Michaela nennt, seines Amtes. 482 der 728 Wähler und damit weit
mehr als die erforderlichen 30 Prozent stimmten für die Abwahl
des 40jährigen, 235 waren dagegen. Es gab elf ungültige
Stimmen. Lindner kündigte an, vor dem Bundesverfassungsgericht
gegen das Abwahlverfahren klagen zu wollen.
Das Ergebnis wurde von den Quellendorfern zumeist mit Beifall
begrüßt, doch gab es auch Streitereien mit den Gegnern der
Abwahl. Der PDS-Politiker war im Februar 1996 von gut 60 Prozent
der Quellendorfer für sieben Jahre gewählt worden.
Bei einer Pressekonferenz am Sonntag abend zeigte sich Lindner,
der ein braunes Damenkostüm trug, enttäuscht über das Votum.
«Ganz offensichtlich gab es ein Problem mit meiner Person in
diesem Ort.» In den letzten Monaten habe er aber gemerkt, daß
es in der bundesdeutschen Gesellschaft generell ein Defizit im
Umgang mit transsexuell veranlagten Menschen gebe. «Es ist kein
typisches Quellendorfer Ergebnis», sagte er. In jedem anderen
deutschen Dorf hätte seiner Meinung nach dasselbe passieren
können. Am Sonntag waren Transsexuelle aus ganz Deutschland und
Frankreich in den Ort gekommen, um Lindner moralisch zu
unterstützen.
Der Betroffene selbst will das Dorf im Landkreis Köthen «in
allerkürzester Zeit» verlassen. Nach seiner
Geschlechtsumwandlung werde er Deutschland ganz den Rücken
kehren. Dem Ort wünsche er alles Gute, auch wenn seine Abwahl
nicht unbedingt eine Werbung für Quellendorf gewesen sei.
Sabine Schadt von der Leipziger Selbsthilfegruppe
Transsexualität äußerte die Sorge, daß dieses Beispiel Schule
machen könnte. Es bestehe die Gefahr, daß mißliebige Menschen
ohne Beweggründe abgewählt werden könnten. Lindner und andere
PDS-Politiker forderten eine stärkere Aufklärung über
Transsexualität. «Ein großer Stein ist mir heute in
Quellendorf in den Weg gelegt worden. Ich werde daran
vorbeigehen», meinte Lindner. Er sehe nun für sich die Chance
für einen Neuanfang.
Im Juli hatte sich der 40jährige auf einer Gemeinderatssitzung
offiziell als Transsexueller geoutet. Das stieß bei vielen der
Dorfbewohner auf Ablehnung. Wenig später stimmten sechs der acht
Gemeinderäte für die Einleitung eines Abwahlverfahrens. Schon
vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses hatte Lindner angekündigt,
sich jetzt auf seine Operation zur Geschlechtsumwandlung
konzentrieren zu wollen. Am 3. Dezember habe er den ersten Termin
in einer Krefelder Klinik.
Montag, 30. November 1998, 07:18 Uhr
Transsexueller Dorfbürgermeister abgewählt
Quellendorf (Reuters) - Die Bürger von Quellendorf in
Sachsen-Anhalt haben am Sonntag ihren transsexuellen
Bürgermeister abgewählt. Mit klarer Mehrheit hätten die 728
Wähler gegen den Verbleib von Norbert alias Michaela Lindner im
Amt gestimmt, teilte der Wahlvorstand am Abend mit. 482 hätten
sich für die Abwahl des 40jährigen ausgesprochen, 235
Quellendorfer seien gegen einen solchen Schritt gewesen. Elf
Stimmen waren ungültig. Der nun abgewählte Bürgermeister, der
sich seit Sommer 1998 Michaela Lindner nennt und Frauenkleider
trägt, sagte anschließend, er wolle in Kürze aus dem Dorf
wegziehen.
Er sagte: "Ich sehe das Ergebnis als Chance, woanders neu
anzufangen." Zugleich kündigte er an, vor dem
Bundesverfassungsgericht gegen das Abwahlverfahren zu klagen. Er
sehe sich nach Artikel drei des Grundgesetzes diskriminiert.
Darin heißt es, daß niemand wegen seines Geschlechts
benachteiligt werden dürfe. Mehrere Transsexuelle waren am
Sonntag in die Gemeinde mit rund 1000 Einwohnern gereist, um
Lindner zu unterstützen. Bei der Abstimmung hatte dieser gesagt,
es gebe wohl kein Dorf in Deutschland, in dem die Bürger mit
Transsexualität problemlos umgehen könnten.
Lindner hatte sich im Juni dieses Jahres offen zu seiner
Transsexualität bekannt. Juristisch betrachtet ist er noch ein
Mann, er lebt aber bereits öffentlich als Frau. Das muß er ein
Jahr lang tun, um die Genehmigung für eine Operation zur
Geschlechtsumwandlung zu bekommen. Lindner ist seit 1996 für die
PDS Bürgermeister in dem Dorf bei Köthen.
Zunächst hatte die Mehrheit im Quellendorfer Gemeinderat im
September für das Abwahlverfahren gestimmt. Die Abwahl ist
gültig, weil mehr als ein Drittel der 874 Wahlberechtigten
abstimmten und sich von ihnen wiederum eine einfache Mehrheit
für die Abwahl aussprach.
Sonntag, 29. November 1998, 12:21 Uhr
Dorf entscheidet über Zukunft transsexuellen Bürgermeisters
Zahlreiche Journalisten und Transsexuelle in Quellendorf
angereist
Quellendorf (AP) Begleitet von großem Medienrummel haben am
Sonntag die 1.048 Einwohner des sachsen-anhaltinischen Ortes
Quellendorf über die Abwahl ihres transsexuellen Bürgermeisters
abgestimmt. Norbert Lindner, der sich seit dem Sommer Michaela
nennt und seither fast ausschließlich Frauenkleider trägt, war
im Februar 1996 von gut 60 Prozent der Dorfbewohner für sieben
Jahre in sein Amt gewählt worden. Als Unterstützung für
Lindner waren am Sonntag Transsexuelle aus ganz Deutschland und
Frankreich nach Quellendorf gereist. Lindner sieht in dem
Bürgervotum eine repräsentative Entscheidung für die ganze
Republik.
Nach der Gemeindeordnung Sachsen-Anhalts müssen mindestens 30
Prozent der Wahlberechtigten einer Abwahl zustimmen. Kurz vor
seinem Urnengang sagte das 40jährige Gemeindeoberhaupt, in jedem
Tausend-Einwohner-Dorf Deutschlands könnte es die gleichen
Probleme geben. «Ich glaube, da hat die Gesellschaft insgesamt
Nachholbedarf», sagte Lindner, der perfekt geschminkt mit
rötlich gefärbtem Haar und braunen Hosen zur Wahl gekommen war.
Diese Erkenntnis sei ihm in den zahlreichen Gesprächen der
letzten Wochen gekommen.
Der Bürgermeister, der von zahlreichen Journalisten, Fotografen
und Kamerateams umringt wurde, kündigte an, sich jetzt auf seine
Operation zur Geschlechtsumwandlung konzentrieren zu wollen. Am
3. Dezember habe er den ersten Termin in Krefeld. Im Falle seiner
Abwahl werde er aus Quellendorf wegziehen und nach Erledigung der
gerichtlichen Formalitäten Deutschland ganz den Rücken kehren.
«Das ist nicht nur ein Quellendorfer Problem, sondern eines in
ganz Deutschland», meinte das PDS-Mitglied. Würde er im Amt
bestätigt, wäre dies für ihn ein «Riesen-Vertrauensbonus».
Im Juli hatte sich der 40jährige auf einer Gemeinderatssitzung
offiziell als Transsexueller geoutet. Das stieß bei vielen
Dorfbewohnern auf Ablehnung. So wurde unter anderem eine
Unterschriftensammlung gegen Lindner initiiert. Wenig später
stimmten sechs der acht Gemeinderäte für die Einleitung eines
Abwahlverfahrens gegen den Bürgermeister. Gleichzeitig wurde
Lindner zum Medienstar, gab auch zahlreichen ausländischen
Journalisten Interviews. Die PDS, die ihn unterstützt, sieht in
dem Abwahlverfahren einen Verstoß gegen das im Grundgesetz
verankerte Gebot der Unantastbarkeit der Würde des Menschen.
Auch Lindners Familie hat sich hinter ihn gestellt. «Sie ist der
gleiche Mensch geblieben»
Nach seinem Urnengang wollte der Bürgermeister mit seinen
angereisten Unterstützern Erfahrungen austauschen. «Das ist
dumm, denn sie ist eigentlich der gleiche Mensch geblieben»,
kommentierte eine Transsexuelle aus Stuttgart das Verhalten der
Quellendorfer. Sie zeigte aber auch Verständnis, weil sie am
Anfang selbst gegen die Veranlagung angekämpft habe. Linder
wollte bei der Stimmenauszählung nach 18.00 Uhr anwesend sein
und anschließend eine Pressekonferenz geben.
Sonntag, 29. November 1998, 10:23 Uhr
Entscheidung über Abwahl von transsexuellem Bürgermeister
Abstimmung in Quellendorf - Aus Norbert Michael Lindner wurde
Michaela
Quellendorf (AP) Die 1.048 Einwohner des sachsen-anhaltinischen
Ortes Quellendorf entscheiden seit Sonntag morgen über die
Abwahl ihres transsexuellen Bürgermeisters. Norbert Lindner, der
sich seit dem Sommer Michaela nennt und seither auch fast
ausschließlich Frauenkleider trägt, war im Februar 1996 von gut
60 Prozent der Dorfbewohner für sieben Jahre in sein Amt
gewählt worden. Als Unterstützung für Lindner wurden am
Sonntag Transsexuelle aus ganz Deutschland in Quellendorf
erwartet. Auch zahlreiche Journalisten waren vor Ort.
Als sich der 40jährige im Juli auf einer Gemeinderatssitzung
öffentlich zu seiner Transsexualität bekannte, stieß das bei
vielen Dorfbewohnern auf Ablehnung. So wurde eine
Unterschriftensammlung gegen Lindner initiiert. Wenig später
stimmten sechs der acht Gemeinderäte für die Einleitung eines
Abwahlverfahrens gegen das PDS-Mitglied. Gleichzeitig wurde
Lindner zum Medienstar und gab auch zahlreichen ausländischen
Journalisten Interviews. Das Abwahlverfahren, das weit über die
Grenzen des Ortes im Landkreis Köthen hinaus für Aufsehen
sorgte, sieht er als Test für die Toleranz in Deutschland.
«Die geplante Absetzung dient offenbar nicht meiner Person,
sondern meiner äußeren Erscheinung», meint Lindner. Der
mittlerweile arbeitslose Ingenieur für Umweltschutz läßt sich
derzeit mit Hormonen behandeln. Auch der Operationstermin für
eine Geschlechtsumwandlung stehe bereits fest. Seine weibliche
Psyche sei in einem männlichen Körper gefangen, hatte Lindner
erklärt.
Die PDS, die ihn unterstützt, sieht in dem Abwahlverfahren einen
Verstoß gegen das im Grundgesetz verankerte Gebot der
Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Zudem verwies die
stellvertretende PDS-Landesvorsitzende Britta Ferchland auf die
Verdienste Lindners. So seien beispielsweise in seiner Amtszeit
ein Jugendklub und ein neues Feuerwehrgerätehaus entstanden.
Nach der Gemeindeordnung Sachsen-Anhalts müssen mindestens 30
Prozent der Wahlberechtigten einer Abwahl zustimmen.
Samstag, 28. November 1998, 21:01 Uhr
Entscheidung über Abwahl des transsexuellen Bürgermeisters
Nachtvorschau
Quellendorf (AP) Am (morgigen) Sonntag
entscheiden die 1.048 Einwohner des sachsen-anhaltinischen Ortes
Quellendorf über die Abwahl ihres transsexuellen
Bürgermeisters. Norbert Lindner, der seit dem Sommer den
Vornamen Michaela trägt, war im Februar 1996 von gut 60 Prozent
der Dorfbewohner für sieben Jahre in das Amt gewählt worden. Am
14. Juli hatte sich der 40jährige auf einer Gemeinderatssitzung
offiziell als Transsexueller geoutet. Wenig später stimmten
sechs der acht Gemeinderäte für die Einleitung eines
Abwahlverfahrens gegen das PDS-Mitglied. Nach der Gemeindeordnung
Sachsen-Anhalts müssen mindestens 30 Prozent der
Wahlberechtigten einer Abwahl zustimmen.