Pressemeldungen zu BürgermeisterIn Lindner

 

Berliner Morgenpost 1998   Samstag, 12. September 199
Bürgermeister wird Bürgermeisterin

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TAZ Nr. 5643 vom 14.09.1998 Seite 13 Reportage 298 Zeilen
TAZ-Bericht Jens Rübsam

Unser Quellendorf soll sauber werden


Norbert Lindner heißt jetzt Michaela. Der transsexuellen Bürgermeisterin droht die Abwahl, sie gilt als "Schande fürs Dorf"

Von Jens Rübsam


Als Bürgermeister Norbert Lindner Mitte Mai seinen Gemeinderäten in nichtöffentlicher Sitzung anvertraute, er sei transsexuell, er plane eine Geschlechtsumwandlung, er wolle eine Frau werden und schon jetzt den Namen Michaela tragen, tat er das in dem Glauben, fortan ein "glücklicheres Leben" führen und "weiterhin Bürgermeister von Quellendorf" sein zu können.

Zwei Jahre im Amt hatte der Bürgermeister damals hinter sich, das Dorf stand recht ansehnlich da. Ein neues Feuerwehrgerätehaus. Ein neuer Jugendklub. Mehr Einwohner, genau 1048. Immer noch ein Kindergarten, immer noch eine Schule im Dorf. Und nun war auch noch das Coming-out geschafft. "Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum", sagte Norbert Lindner den Gemeinderäten an jenem Abend. Einer steckte das der Bild-Zeitung.

Ein schöner Sommertag, dieser Donnerstag vergangener Woche. Vielleicht der letzte in diesem Jahr. Die Bäckersfrau schließt um eins den Laden ab, am türkischen Imbiß beißen die Jugendlichen sich an ihrem Döner fest. Die Alten aus Quellendorf haben im Garten zu schaffen, an den Bäumen hängen fette Pflaumen und Birnen. "Mit Gurken", sagt einer, "war es dieses Jahr nichts." Um viertel nach zwei halten zwei große Busse vor der Schule, die Kinder kommen nach Hause. Die Bäckersfrau hat den Laden wieder aufgesperrt. Auf dem Friedhof pflegen Dorfbewohner die Gräber. Gepflegte Idylle in der anhaltinischen Provinz.

In Quellendorf ist nichts mehr, wie es einmal war

Durchs Dorf fährt eine Frau in einem schwarzen Audi. Es ist die Bürgermeisterin. Sie trägt schwarze Pumps und goldene Ohrringe, auf dem Rücksitz liegt ein Handtäschen aus feinem Leder. Michaela Lindner kommt vom Friseur, die Haare frisch getönt, kastanienbraun. Sie grüßt durch die Scheibe. Niemand grüßt zurück. "Ich will provozieren", sagt sie über solche Gesten, "ich fordere die Leute heraus, sich mit mir auseinanderzusetzen."

Am Abend wird der Gemeinderat ein Abwahlverfahren einleiten. "In Quellendorf ist nichts mehr so, wie es einmal war", wird der stellvertretende Bürgermeister Pforte sagen. Er hat nicht ganz unrecht. Tage nach der vertraulichen Mitteilung Norbert Lindners an seine Gemeinderäte hatte Bild getitelt: "Bald heiße ich Michaela." Wenig später hieß es: "Darf Norbert als Michaela regieren?" Da hatten schon 175 Quellendorfer ihre Unterschrift gegeben - gegen Lindner als Bürgermeisterin. Der Gemeinderat sah "das Vertrauen der Bürger" nicht mehr gegeben. Eine "Schande für das Dorf" sei Michaela Lindner, meinten die einen. Eine "Schwuchtel, die nicht hierhergehört", nannten sie andere. "Was bei Tieren nicht vorkommt, kann es bei Menschen nicht geben", hörte man. Schließlich habe man einen Mann, keine Frau gewählt. Bald kursierten Gerüchte: "Im Jugendklub hat sie schon in Kleidern getanzt." Herzlichen Applaus gab es am Donnerstag abend, als sechs von acht Gemeinderäten den Beschluß abnickten. Am 29. November ist Abwahltag.

Jutta Lindner wird dann nicht mehr in Quellendorf wohnen. Sie sitzt in der Wohnstube des kleinen Eigenheims, nimmt Anrufe entgegen und notiert alles gewissenhaft. Drei Frauen wünschen ihrem Mann - "für mich ist Michaela noch immer mein Mann" - alles Gute. Eine fühlt sich an die "Hexenverbrennungen im Mittelalter" erinnert. Fernsehsender bitten um Interviews. Ein Politiker der Bündnisgrünen will helfen. Michaela Lindner ist in der PDS.

Vor zwei Jahren war Norbert Lindner mit über 60 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Quellendorf gewählt worden. Im Frühjahr kandidierte er für den Landtag Sachsen-Anhalts. Er bekam 7.873 Stimmen im Landkreis Köthen, nur 4.000 weniger als die Siegerin von der SPD. Den Sprung in den Landtag schaffte er nicht, dafür stand er in der Landesliste der PDS zu weit hinten.

Heute zeigt sich die PDS erkenntlich, sie unterstützt den, wie es heißt, "bundesweit ersten Transexuellen in einer Leitungsfunktion". Für Britta Ferchland, die stellvertretende Landesvorsitzende, widerspricht das Abwahlverfahren "dem Grundgesetzgebot der Unantastbarkeit der Menschenwürde". Der Abgeordnete Matthias Gärtner will prüfen, "ob hier nicht das vom Landtag verabschiedete Antidiskriminierungsgesetz greift". Ein Vertreter des Landratsamtes empfahl den Gemeinderäten: "Was in Quellendorf in den vergangenen Jahren passiert ist, ist mit dem Kopf und mit den Händen passiert, nicht mit dem Geschlechtsteil."

Wieder klingelt das Telefon. "Lindner", meldet sich Jutta Lindner. "Sie wollen Frau Lindner sprechen? Welche Frau Lindner?" fragt sie. So geht das täglich, seitdem bekannt ist, daß Herr Lindner Frau Lindner ist. Viele positive Anrufe, vor allem von Frauen. Nur einer, ein Mann, schrie in den Hörer: "Wo ist das Schwein? Das müßte man umbringen." Nein, Jutta Lindner muß sich das nicht antun.

Sie wird wegziehen von Quellendorf. Das Haus aufgeben, das sie sich vor zwei Jahren gebaut haben und das heute noch nicht fertig und noch lange nicht abbezahlt ist. Sie wird sich trennen von "Michi", wie sie Michaela nennt. "Räumlich trennen", so wie sie es die vergangenen zwei Monate schon getan haben. Sie brauchte Abstand und Zeit, die beiden Töchter brauchten Abstand und Zeit, "weil eine Welt zusammengebrochen ist". Nicht erst jetzt, seitdem gehetzt wird im Dorf und fast niemand mehr grüßt. Nein, schon vor einem Jahr als, "mein Mann mir seine Transsexualität gestand" und "ich auf einmal eine Frau lieben sollte".

Norbert Lindner hatte sich den Bart abgenommen, die Haare lang wachsen lassen, 25 Kilo abgespeckt, angefangen sich zu schminken, Ohrringe, Kleider und Röcke zu tragen. Komische Röcke. "Schauen Sie mal." Jutta Lindner geht zum Schrank, holt einen Minirock hervor, dunkelblau mit Blümchenmuster. "Sein erster Rock. So etwas zieht doch keine Frau an!" Sie lächelt ein verzweifeltes Lächeln. Selbsthilfegruppen für Partner von Transsexuellen gibt es in Sachsen-Anhalt nicht.

Auf den Straßen in Quellendorf befragen Journalisten die Einwohner. Sie bekommen zu hören, was sie hören wollen. Knackige O-Töne. "Wenn das mein Sohn machen würde, würde ich ihn aus dem Haus jagen." "Wenn der morgens bis abends gearbeitet hätte, wäre er nicht auf solche Gedanken gekommen." Hätte Michaela Lindner dies gehört, sie hätte nur schmunzeln können. Sie hat gearbeitet, von morgens bis abends. "Arbeit war meine Verdrängung."

Das Haus. Immer wieder am Haus gewerkelt. Vom ersten Spatenstich bis zum letzten Tropfen Farbe, Lindners haben alles selbst gemacht. Die Firmen. Zwei Unternehmen hatte Michaela Lindner gegründet und wieder aufgegeben, jetzt ist sie selbständige Ingenieurin. Das Bürgermeisteramt, ehrenamtlich. Die Sitzungen, die Sprechstunden. Und die Parteiarbeit, nebenbei. "Wir hatten keine Zeit füreinander", sagt Jutta Lindner. Keine Lust auf Sex. Wenn überhaupt, sei es wie eine Pflicht gewesen. Es sind Erklärungsversuche einer Frau, die nicht begreifen kann, von den Wünschen ihres Partners nicht schon früher gemerkt zu haben. Immerhin kennen sich Lindners 19 Jahre, seit 16 sind sie verheiratet.

Michaela Lindner erzählt das etwas anders: "Im Bett hat es nicht geklappt, weil ich immer die andere Rolle spielen wollte." Ausgesprochen allerdings hat sie das nicht. Statt dessen fuhr sie nach Frankfurt am Main oder Hamburg, zog sich auf der Autobahn Frauenkleider über, lebte sich aus, fuhr zurück, zog sich in Raststätten wieder um, und kam als Norbert Lindner in Quellendorf an. Als Seelenakrobatik auf der Autobahn könnte man das bezeichnen. Euphorie und Depression bei 120 Stundenkilometern.

Laut maulen, leise zischeln, hämisch grinsen

Bis zu jenem Tag, als sie sich in einer öffentlichen Ratssitzung zu ihrer Transsexualität bekannte und in den Jugendklub ging, um die Kids aufzuklären. Sie sprach mit ihnen von "Krankheit" und der medizinischen Versorgung, die notwendig ist: Hormonbehandlung, Epilation, schließlich psychologische Betreuung und Geschlechtsumwandlung.

Im Jugendklub sitzen die, die von den "Simpsons" mehr wissen als von Transsexualität. "Simpsons"-Schauen ist Pflicht im Quellendorfer Jugendklub. Es darf geraucht werden. Getrunken? Bier? Na ja. Remo hat heute Geburtstag, er gibt eine Runde aus.
Dem Bürgermeister haben sie vergangenes Jahr einen blauen Kognakschwenker mit goldener Aufschrift geschenkt. "Dem Herrn Lindner", sagen sie, "haben wir schließlich den Klub zu verdanken." Und dann sagen sie noch: "Er soll Bürgermeister bleiben." Lindner hat ihnen das Du angeboten.

Aber das Sagen im Dorf haben die Alten, die wahrscheinlich nicht einmal wissen, wie man Transsexualität buchstabiert, die niemanden dulden, der nicht in das übliche Frau-Mann-Schema paßt, die Schauprozesse anstrengen, um Ordnung zu schaffen im Dorf.

Wie an diesem Donnerstag in dem kleinen Klasssenzimmer der Grundschule Quellendorf. In speckigen Hosen sitzen die Bürger des Dorfes auf Kinderstühlen, die Arme streng vor der Brust verschränkt, maulen laut, zischeln leise und grinsen hämisch, als die Frau Bürgermeisterin, adrett gekleidet und fein geschminkt, des Raum betritt und sich selbst einen Stuhl suchen muß. Die Einleitung des Abwahlantrages ist schnell beschlossen, zufriedenes Grummeln. Wenig später, die Einwohnerfragestunde hat begonnen, sagt einer der älteren Herren: "Im Zuge der Säuberung unseres Dorfes", er legt eine kurze Pause ein, "muß man sich auch um verwahrloste Ecken kümmern."


©Berliner Morgenpost 1998   Samstag, 12. September 199

Bürgermeister wird Bürgermeisterin

Ein Dorf und die Affäre um einen Transsexuellen
Von Dirk Reinhardt


Sichtlich nervös eröffnet Uwe Pforte die Gemeinderatssitzung im Klassenzimmer der Quellendorfer Schule. Man habe «leider kein erfreuliches Thema» an diesem Abend zu besprechen, sagt der stellvertretende Bürgermeister. Etwa 40 Einwohner haben auf den Zuschauerbänken Platz genommen, fast ebensoviele Journalisten sind erschienen. Mitten im
Raum sitzt die Person, um deren politisches Schicksal es geht: eine herb wirkende, stark geschminkte Frau in hellbrauner Jacke, dunklen Hosen und schwarzen Pumps.

Die Frau, die sich Michaela nennt, ist vor gut zweieinhalb Jahren mit 60 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister der 1048-Seelen-Gemeinde Quellendorf bei Dessau gewählt worden - damals unter dem Namen Norbert. Vor zwei Monaten hat sich Norbert Michael Lindner im Gemeinderat zur Transsexualität bekannt und die Absicht öffentlich gemacht, nach einer Geschlechtsumwandlung künftig als Frau mit dem Namen Michaela weiterzuleben. Die Reaktion kam promt: Einziger Tagesordnungspunkt der Sitzung in der Grundschule ist der Antrag von sechs der acht Gemeinderäte, ein Abwahlverfahren gemäß Paragraph 61 der Gemeindeordnung Sachsen-Anhalts gegen Lindner einzuleiten.

In der Sitzung bemühen sich Uwe Pforte und seine Mitstreiter (alle parteilos) hartnäckig, Vermutungen über einen Zusammenhang mit der Transsexualität Lindners zurückzuweisen. Man habe nur auf «massiven Druck der Bevölkerung» reagiert, sagt Pforte, der auf eine Liste mit 175 Unterschriften verweist. Auch einen parteipolitischen Hintergrund - Lindner ist PDS-Mitglied - gebe es nicht. Eine konkrete Begründung für ihr Begehren nennen die Antragsteller auch nach mehrmaliger Nachfrage des Gemeinderates Erich Foßhauer (PDS) nicht.
«Nach der Gemeindeordnung von Sachsen-Anhalt muß ein Abwahlantrag nicht begründet werden», belehrt Pforte.

Mit sechs gegen zwei Stimmen wird also der 29. November als Tag der Abstimmung über die Abwahl festgesetzt.

Die anwesenden Quellendorfer sind nach der Sitzung weniger zurückhaltend. Unisono erklären mehrere auf Fragen von Journalisten, die übertriebene Selbstdarstellung Lindners in Talkshows und Interviews der vergangenen Wochen sei der Grund für den Abwahlantrag. «Sie  haben die Medien doch hergerufen», wirft ein älterer Mann Michaela/Norbert vor. Eckhard Spanier, in der letzten Legislaturperiode Gemeinderatsvorsitzender, nennt dagegen übertriebene Machtbesessenheit als Begründung. Das Vertrauen zu Lindner sei erschüttert, das Gemeindeoberhaupt sei im Umgang mit
Gemeinderäten und Bürgern zu überheblich aufgetreten. Unter vier Augen wird eine ältere Frau dann deutlicher: «Die Leute, welche die Unterschriftensammlung gemacht haben, sagten, man habe schließlich einen Bürgermeister gewählt und keine Bürgermeisterin.»

«Fachlich habe ich mir nichts vorzuwerfen», erklärt dagegen Michaela Lindner. Auch nach dem Outing habe sie ihre Aufgaben wahrgenommen, bei Bürgergesprächen keinerlei Ablehnung erfahren. Ihren Gegnern im Gemeinderat wirft sie vor, seit dem Coming-Out nie das Gespräch mit ihr gesucht und statt dessen hinter ihrem Rücken die Abwahl
betrieben zu haben. Bis zur Bürgerabstimmung wolle sie die Leute im Dorf «mit meiner Person konfrontieren, so wie ich jetzt bin».

Jutta Lindner, die vor sechzehn Jahren Norbert heiratete und mit ihm zwei Kinder hat, stellt sich neben ihren zur Frau werdenden Mann. «Michaela, ich werde immer Deine Freundin sein», betont sie in einer schriftlichen Erklärung.

Das mit der Anrede «sie» sei allerdings noch schwierig, sagt sie darin auch. Nach so vielen Jahren werde nun eben nicht innerhalb eines Jahres aus dem Ehemann eine Ehefrau. Gemeinderat Pforte hat da weniger Probleme: «Solange nichts anderes vorliegt, ist Herr Lindner für uns ein Mann.»


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Montag, 30. November 1998, 12:47 Uhr


Transsexueller Exbürgermeister gibt nicht klein bei klagen - PDS will Thema in Quellendorf wachhalten Von AP-Korrespondentin Susann Huster

Quellendorf (AP) Die etwas zu stark geschminkten braunen Augen schauen traurig. Doch ansonsten ist Norbert Lindner, der seit dem Sommer den Vornamen Michaela trägt, nichts anzumerken. Mit elegantem braunem Nadelstreifenkostüm, Pumps und rötlich gefärbten Haaren steht der transsexuelle Bürgermeister der Gemeinde Quellendorf in Sachsen-Anhalt äußerlich ruhig im Gedränge des Wahllokals, als das Ergebnis am Sonntag abend verkündet wird: 482 der 728 Wähler stimmten für seine Abwahl, 235 waren für den Verbleib des 40jährigen PDS-Politikers im Amt bei 11 ungültigen Stimmen.

Weit über die Grenzen Deutschlands sorgte das bundesweit bisher einmalige Votum für Schlagzeilen. Vor allem im Ausland wurde es als Gradmesser für die deutsche Toleranz gesehen.

Als Norbert Lindner im Februar 1996 zum Bürgermeister von Quellendorf gewählt wurde, war er ein normaler Mann mit Ehefrau und Kindern. Doch irgendwann merkte er, daß seine weibliche Psyche in einem männlichen Körper gefangen ist. Im letzten Sommer vertraute er den Gemeinderäten seine Veranlagung an. Im Dorf stieß die Offenbarung meist auf Ablehnung. Es wurden Unterschriften gegen den Bürgermeister gesammelt, der immer häufiger in Frauenkleidern gesehen wurde. Der 40jährige stand dennoch zu seiner Transsexualität. Für die Quellendorfer schien das ein unhaltbarer Zustand zu sein. Sechs der acht Gemeinderäte beantragten im September seine Abwahl.

Nun haben sich die Gegner Lindners durchgesetzt. Die Enttäuschung, die ihm die Quellendorfer bereitet haben, sitzt tief. «Ein großer Stein ist mir heute in Quellendorf in den Weg gelegt worden. Ich werde daran vorbeigehen», sagt der Abgewählte. Ihm zur Seite stehen am Sonntag Transsexuelle, die aus ganz Deutschland und Frankreich in den Ort im Landkreis Köthen gekommen waren. Berenice Vogel aus Stuttgart findet das Verhalten der Quellendorfer «dumm». «Sie ist eigentlich der gleiche Mensch geblieben. Warum soll man Ehrlichkeit bestrafen?» Irgendwie verstehe sie jedoch auch die Menschen im Dorf. Schließlich habe sie selbst am Anfang gegen ihre Veranlagung gekämpft.

Aggressive Stimmung bei Stimmenauszählung

Der Ansturm von Journalisten und Kamerateams aus dem In- und Ausland ist vor allem den älteren Dorfbewohnern unangenehm. Kaum einer will mit den Reportern sprechen. Gleich nach der Wahl gehen die meisten schnellen Schrittes und mit gesenktem Kopf wieder nach Hause. Einige wollen sich jedoch das Spektakel, das ihrem Dorf zu zweifelhafter Berühmtheit verhalf, nicht entgehen lassen. Sie stehen stundenlang um die Imbißstände herum, die geschäftstüchtige Quellendorfer gleich neben dem Wahllokal aufgebaut haben. Die Bäckerin des Ortes hatte sich eigens für den großen Tag eine Sondergenehmigung besorgt, um am Sonntag öffnen zu können.

«Hilfe, da gehst du doch kaputt hier», beschwert sich ein Jugendlicher aus Quellendorf. Tatsächlich wird die Stimmung immer aggressiver, je näher die Stimmenauszählung rückt. Schon gibt es in dem engen Wahllokal erste Rangeleien zwischen Gegnern und Befürwortern der Abwahl. Die Polizei muß eingreifen. Einige wenige klatschen, als Michaela Lindner die stickige Baracke betritt. Viel größer ist der Jubel bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses.

Lindner bleibt gefaßt und bedankt sich zunächst höflich bei den Wahlhelfern. Am Schluß wünscht er dem Ort alles Gute, auch wenn seine Abwahl nicht unbedingt eine Werbung für Quellendorf gewesen sei. Nicht nur dem Dorf, auch Deutschland will der Ex-Bürgermeister schnellstmöglich den Rücken kehren. Nun werde er sich jedoch erst einmal auf seine Operation zur Geschlechtsumwandlung konzentrieren. Zugleich kündigt er an, gegen das Abwahlverfahren beim Bundesverfassungsgericht zu klagen, weil er sich wegen seines Geschlechts benachteiligt fühle. Nach Quellendorf zurückkehren will er aber nicht.

Auch unter einem neuen Bürgermeister werden sich die Dorfbewohner also mit dem Thema Transsexualität auseinandersetzen müssen. Dafür will auch die stellvertretende PDS-Landesvorsitzende Britta Ferchland sorgen: «Sie, meine lieben Quellendorferinnen und Quellendorfer, werden das Thema auch weiterhin hören», kündigte sie am Sonntag abend an.

 

Montag, 30. November 1998, 12:16 Uhr

Transexueller Bürgermeister will vor Gericht


Magdeburg (Reuters) - Der abgewählte transsexuelle Bürgermeister von Quellendorf in Sachsen-Anhalt will zwar seinen Amtssessel räumen, gegen die Abwahl aber Klage vor dem Bundesverfassungsgericht einreichen. In der Umgebung von Norbert alias Michaela Lindner hieß es am Montag in Quellendorf, der 40jährige habe sich entschieden, vor das oberste deutsche Gericht zu ziehen, weil er sich wegen des Geschlechts benachteiligt fühle. Den Amtssitz in der Gemeindeverwaltung werde Lindner aber innerhalb von acht Tagen räumen.

Die Bürger des Dorfes mit 1000 Einwohnern hatten Lindner am Sonntag mit klarer Mehrheit abgewählt. Anschließend erklärte Lindner, der sich seit Juni 1998 Michaela nennt und Frauenkleider trägt, er wolle in Kürze aus dem Dorf wegziehen. "Ich sehe das Ergebnis als Chance, woanders neu anzufangen." Lindner ist verheiratet und hat zwei Kinder. Am Montag war er nicht erreichbar.

Eine Freundin sagte, Lindner fühle sich durch das Abwahlverfahren im Grundrecht auf Gleichbehandlung nach Artikel 3 des Grundgesetzes verletzt. Darin heißt es, daß niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt werden darf. Mehrere Transsexuelle waren am Sonntag in die Gemeinde bei Köthen gereist, um Lindner zu unterstützen.

Lindner hatte sich im Juni offen zu seiner Transsexualität bekannt. Juristisch betrachtet ist Lindner noch Mann, lebt aber bereits öffentlich als Frau. Das muß er nach Angaben der Freundin mindestens ein Jahr tun, um eine Operation zur Geschlechtsumwandlung zu bekommen. Lindner ist seit 1996 für die PDS Bürgermeister in dem Quellendorf.

 

Montag, 30. November 1998, 11:52 Uhr

Transsexueller Bürgermeister muß gehen


PDS-Politiker will Deutschland nach Geschlechtsumwandlung verlassen - Klage vor Bundesverfassungsgericht angekündigt

Quellendorf (AP) Der transsexuelle Bürgermeister von Quellendorf in Sachsen-Anhalt muß seinen Sessel räumen. In einem bislang einmaligen Votum in Deutschland enthoben die 1.048 Einwohner der Gemeinde am Sonntag Norbert Lindner, der sich seit dem Sommer Michaela nennt, seines Amtes. 482 der 728 Wähler und damit weit mehr als die erforderlichen 30 Prozent stimmten für die Abwahl des 40jährigen, 235 waren dagegen. Es gab elf ungültige Stimmen. Lindner kündigte an, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Abwahlverfahren klagen zu wollen.

Das Ergebnis wurde von den Quellendorfern zumeist mit Beifall begrüßt, doch gab es auch Streitereien mit den Gegnern der Abwahl. Der PDS-Politiker war im Februar 1996 von gut 60 Prozent der Quellendorfer für sieben Jahre gewählt worden.

Bei einer Pressekonferenz am Sonntag abend zeigte sich Lindner, der ein braunes Damenkostüm trug, enttäuscht über das Votum. «Ganz offensichtlich gab es ein Problem mit meiner Person in diesem Ort.» In den letzten Monaten habe er aber gemerkt, daß es in der bundesdeutschen Gesellschaft generell ein Defizit im Umgang mit transsexuell veranlagten Menschen gebe. «Es ist kein typisches Quellendorfer Ergebnis», sagte er. In jedem anderen deutschen Dorf hätte seiner Meinung nach dasselbe passieren können. Am Sonntag waren Transsexuelle aus ganz Deutschland und Frankreich in den Ort gekommen, um Lindner moralisch zu unterstützen.

Der Betroffene selbst will das Dorf im Landkreis Köthen «in allerkürzester Zeit» verlassen. Nach seiner Geschlechtsumwandlung werde er Deutschland ganz den Rücken kehren. Dem Ort wünsche er alles Gute, auch wenn seine Abwahl nicht unbedingt eine Werbung für Quellendorf gewesen sei.

Sabine Schadt von der Leipziger Selbsthilfegruppe Transsexualität äußerte die Sorge, daß dieses Beispiel Schule machen könnte. Es bestehe die Gefahr, daß mißliebige Menschen ohne Beweggründe abgewählt werden könnten. Lindner und andere PDS-Politiker forderten eine stärkere Aufklärung über Transsexualität. «Ein großer Stein ist mir heute in Quellendorf in den Weg gelegt worden. Ich werde daran vorbeigehen», meinte Lindner. Er sehe nun für sich die Chance für einen Neuanfang.

Im Juli hatte sich der 40jährige auf einer Gemeinderatssitzung offiziell als Transsexueller geoutet. Das stieß bei vielen der Dorfbewohner auf Ablehnung. Wenig später stimmten sechs der acht Gemeinderäte für die Einleitung eines Abwahlverfahrens. Schon vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses hatte Lindner angekündigt, sich jetzt auf seine Operation zur Geschlechtsumwandlung konzentrieren zu wollen. Am 3. Dezember habe er den ersten Termin in einer Krefelder Klinik.

Montag, 30. November 1998, 07:18 Uhr

Transsexueller Dorfbürgermeister abgewählt


Quellendorf (Reuters) - Die Bürger von Quellendorf in Sachsen-Anhalt haben am Sonntag ihren transsexuellen Bürgermeister abgewählt. Mit klarer Mehrheit hätten die 728 Wähler gegen den Verbleib von Norbert alias Michaela Lindner im Amt gestimmt, teilte der Wahlvorstand am Abend mit. 482 hätten sich für die Abwahl des 40jährigen ausgesprochen, 235 Quellendorfer seien gegen einen solchen Schritt gewesen. Elf Stimmen waren ungültig. Der nun abgewählte Bürgermeister, der sich seit Sommer 1998 Michaela Lindner nennt und Frauenkleider trägt, sagte anschließend, er wolle in Kürze aus dem Dorf wegziehen.

Er sagte: "Ich sehe das Ergebnis als Chance, woanders neu anzufangen." Zugleich kündigte er an, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Abwahlverfahren zu klagen. Er sehe sich nach Artikel drei des Grundgesetzes diskriminiert. Darin heißt es, daß niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt werden dürfe. Mehrere Transsexuelle waren am Sonntag in die Gemeinde mit rund 1000 Einwohnern gereist, um Lindner zu unterstützen. Bei der Abstimmung hatte dieser gesagt, es gebe wohl kein Dorf in Deutschland, in dem die Bürger mit Transsexualität problemlos umgehen könnten.

Lindner hatte sich im Juni dieses Jahres offen zu seiner Transsexualität bekannt. Juristisch betrachtet ist er noch ein Mann, er lebt aber bereits öffentlich als Frau. Das muß er ein Jahr lang tun, um die Genehmigung für eine Operation zur Geschlechtsumwandlung zu bekommen. Lindner ist seit 1996 für die PDS Bürgermeister in dem Dorf bei Köthen.

Zunächst hatte die Mehrheit im Quellendorfer Gemeinderat im September für das Abwahlverfahren gestimmt. Die Abwahl ist gültig, weil mehr als ein Drittel der 874 Wahlberechtigten abstimmten und sich von ihnen wiederum eine einfache Mehrheit für die Abwahl aussprach.

 

Sonntag, 29. November 1998, 12:21 Uhr

Dorf entscheidet über Zukunft transsexuellen Bürgermeisters


Zahlreiche Journalisten und Transsexuelle in Quellendorf angereist

Quellendorf (AP) Begleitet von großem Medienrummel haben am Sonntag die 1.048 Einwohner des sachsen-anhaltinischen Ortes Quellendorf über die Abwahl ihres transsexuellen Bürgermeisters abgestimmt. Norbert Lindner, der sich seit dem Sommer Michaela nennt und seither fast ausschließlich Frauenkleider trägt, war im Februar 1996 von gut 60 Prozent der Dorfbewohner für sieben Jahre in sein Amt gewählt worden. Als Unterstützung für Lindner waren am Sonntag Transsexuelle aus ganz Deutschland und Frankreich nach Quellendorf gereist. Lindner sieht in dem Bürgervotum eine repräsentative Entscheidung für die ganze Republik.

Nach der Gemeindeordnung Sachsen-Anhalts müssen mindestens 30 Prozent der Wahlberechtigten einer Abwahl zustimmen. Kurz vor seinem Urnengang sagte das 40jährige Gemeindeoberhaupt, in jedem Tausend-Einwohner-Dorf Deutschlands könnte es die gleichen Probleme geben. «Ich glaube, da hat die Gesellschaft insgesamt Nachholbedarf», sagte Lindner, der perfekt geschminkt mit rötlich gefärbtem Haar und braunen Hosen zur Wahl gekommen war. Diese Erkenntnis sei ihm in den zahlreichen Gesprächen der letzten Wochen gekommen.

Der Bürgermeister, der von zahlreichen Journalisten, Fotografen und Kamerateams umringt wurde, kündigte an, sich jetzt auf seine Operation zur Geschlechtsumwandlung konzentrieren zu wollen. Am 3. Dezember habe er den ersten Termin in Krefeld. Im Falle seiner Abwahl werde er aus Quellendorf wegziehen und nach Erledigung der gerichtlichen Formalitäten Deutschland ganz den Rücken kehren. «Das ist nicht nur ein Quellendorfer Problem, sondern eines in ganz Deutschland», meinte das PDS-Mitglied. Würde er im Amt bestätigt, wäre dies für ihn ein «Riesen-Vertrauensbonus».

Im Juli hatte sich der 40jährige auf einer Gemeinderatssitzung offiziell als Transsexueller geoutet. Das stieß bei vielen Dorfbewohnern auf Ablehnung. So wurde unter anderem eine Unterschriftensammlung gegen Lindner initiiert. Wenig später stimmten sechs der acht Gemeinderäte für die Einleitung eines Abwahlverfahrens gegen den Bürgermeister. Gleichzeitig wurde Lindner zum Medienstar, gab auch zahlreichen ausländischen Journalisten Interviews. Die PDS, die ihn unterstützt, sieht in dem Abwahlverfahren einen Verstoß gegen das im Grundgesetz verankerte Gebot der Unantastbarkeit der Würde des Menschen.
Auch Lindners Familie hat sich hinter ihn gestellt. «Sie ist der gleiche Mensch geblieben»

Nach seinem Urnengang wollte der Bürgermeister mit seinen angereisten Unterstützern Erfahrungen austauschen. «Das ist dumm, denn sie ist eigentlich der gleiche Mensch geblieben», kommentierte eine Transsexuelle aus Stuttgart das Verhalten der Quellendorfer. Sie zeigte aber auch Verständnis, weil sie am Anfang selbst gegen die Veranlagung angekämpft habe. Linder wollte bei der Stimmenauszählung nach 18.00 Uhr anwesend sein und anschließend eine Pressekonferenz geben.

 

Sonntag, 29. November 1998, 10:23 Uhr

Entscheidung über Abwahl von transsexuellem Bürgermeister


Abstimmung in Quellendorf - Aus Norbert Michael Lindner wurde Michaela

Quellendorf (AP) Die 1.048 Einwohner des sachsen-anhaltinischen Ortes Quellendorf entscheiden seit Sonntag morgen über die Abwahl ihres transsexuellen Bürgermeisters. Norbert Lindner, der sich seit dem Sommer Michaela nennt und seither auch fast ausschließlich Frauenkleider trägt, war im Februar 1996 von gut 60 Prozent der Dorfbewohner für sieben Jahre in sein Amt gewählt worden. Als Unterstützung für Lindner wurden am Sonntag Transsexuelle aus ganz Deutschland in Quellendorf erwartet. Auch zahlreiche Journalisten waren vor Ort.

Als sich der 40jährige im Juli auf einer Gemeinderatssitzung öffentlich zu seiner Transsexualität bekannte, stieß das bei vielen Dorfbewohnern auf Ablehnung. So wurde eine Unterschriftensammlung gegen Lindner initiiert. Wenig später stimmten sechs der acht Gemeinderäte für die Einleitung eines Abwahlverfahrens gegen das PDS-Mitglied. Gleichzeitig wurde Lindner zum Medienstar und gab auch zahlreichen ausländischen Journalisten Interviews. Das Abwahlverfahren, das weit über die Grenzen des Ortes im Landkreis Köthen hinaus für Aufsehen sorgte, sieht er als Test für die Toleranz in Deutschland.

«Die geplante Absetzung dient offenbar nicht meiner Person, sondern meiner äußeren Erscheinung», meint Lindner. Der mittlerweile arbeitslose Ingenieur für Umweltschutz läßt sich derzeit mit Hormonen behandeln. Auch der Operationstermin für eine Geschlechtsumwandlung stehe bereits fest. Seine weibliche Psyche sei in einem männlichen Körper gefangen, hatte Lindner erklärt.

Die PDS, die ihn unterstützt, sieht in dem Abwahlverfahren einen Verstoß gegen das im Grundgesetz verankerte Gebot der Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Zudem verwies die stellvertretende PDS-Landesvorsitzende Britta Ferchland auf die Verdienste Lindners. So seien beispielsweise in seiner Amtszeit ein Jugendklub und ein neues Feuerwehrgerätehaus entstanden.

Nach der Gemeindeordnung Sachsen-Anhalts müssen mindestens 30 Prozent der Wahlberechtigten einer Abwahl zustimmen.

 

Samstag, 28. November 1998, 21:01 Uhr

Entscheidung über Abwahl des transsexuellen Bürgermeisters

Nachtvorschau

Quellendorf (AP) Am (morgigen) Sonntag entscheiden die 1.048 Einwohner des sachsen-anhaltinischen Ortes Quellendorf über die Abwahl ihres transsexuellen Bürgermeisters. Norbert Lindner, der seit dem Sommer den Vornamen Michaela trägt, war im Februar 1996 von gut 60 Prozent der Dorfbewohner für sieben Jahre in das Amt gewählt worden. Am 14. Juli hatte sich der 40jährige auf einer Gemeinderatssitzung offiziell als Transsexueller geoutet. Wenig später stimmten sechs der acht Gemeinderäte für die Einleitung eines Abwahlverfahrens gegen das PDS-Mitglied. Nach der Gemeindeordnung Sachsen-Anhalts müssen mindestens 30 Prozent der Wahlberechtigten einer Abwahl zustimmen.